Mysteriöse Frau in gelb

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Tom Mustroph, Radsportautor und Dopingexperte, berichtet zum zehnten Mal für ND von der Tour de France.
Tom Mustroph, Radsportautor und Dopingexperte, berichtet zum zehnten Mal für ND von der Tour de France.

Der italienische Radsportheld Fausto Coppi hatte seine berühmte »weiße Frau« – die Geliebte, die im weißen Kleide dem verheirateten Radstar von Etappenort zu Etappenort folgte und einen negativen Einfluss auf die Leistung des Italieners gehabt haben soll. Alberto Contador hat nun seine »Frau in gelb«. Sie übte definitiv einen negativen Einfluss auf den Spanier aus. Denn sie stand just den einen Schritt näher an der Fahrbahn als alle anderen Zuschauer und löste prompt den Massensturz aus, der Contador den Rückstand von 1:14 min auf seinen Hauptrivalen Andy Schleck einbrachte.

»Wer ist die Dame?«, die sich ausgerechnet in die Leitfarbe der Tour de France gewandet hatte, fragte am Tag danach die Sportzeitung »L'Equipe«. »Sie ist ein Mysterium. Die Polizei sucht sie noch«, schrieb das Hausblatt der Tour und stellte eine eigene Untersuchung an. Sie sei früh aufgestanden, wurde der Tagesablauf rekonstruiert. Doch das ist schon die einzige Sicherheit. Denn ob sie in gelber Kleidung aus dem Haus ging oder solch ein Textil erst von der Werbekarawane erhalten hat, bleibt ungeklärt.

Das Picknick, das sie sicher mit dabei hatte, war zum Zeitpunkt des Unfalls wohl längst verzehrt. Nur ein paar Schluck Wasser oder Wein waren nach Stunden des Wartens übrig geblieben, wird weiter spekuliert. Doch dann der Kick: Das Peloton nähert sich. Das Hauptereignis eines langen Tages steht kurz bevor. Wo war der Ehemann zu diesem Zeitpunkt? »Er ist seiner Pflicht nicht nachgekommen«, meint die sich noch in schlimmsten patriarchalen Zeiten befindliche »L'Equipe« – und schlägt dann eine überraschende Wendung ein. Mit ihrem kleinen Schritt habe sie der Tour ein exzellentes Spannungsmoment verliehen. Die »Frau in gelb« sei daher reif für eine Erinnerungsmedaille.

Bei Frankreichs Satireinstitution »Le Canard enchainé« hätte solch eine Häme wenig verwundert. Bei der offiziösen »L'Equipe« – Tourorganisator ASO gehört zum selben Medienimperium Amaury – verwundert sie nicht nur. Sie ist auch doppelzüngig und unanständig. Denn um sich beim Publikum anzubiedern, dass den vom Medienkonzern eingeladenen Spanier massiv ablehnt, spielt sie nicht nur mit diesen Ressentiments. In seiner Funktion als Toursprachrohr autorisiert das Blatt gewissermaßen weitere Angriffe und unterstellt zugleich der unglücklichen Zuschauerin eine Absicht. Das geht zu weit.

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