Das neue Machtzentrum im Fußball

Mit großen Sportevents will Marokko die Entwicklung vorantreiben und als Bindeglied zwischen Europa und Afrika wirken

  • Ronny Blaschke, Casablanca
  • Lesedauer: 7 Min.
Vor allem junge Leute protestierten im Oktober gegen Missstände im marokkanischen Bildungs- und Gesundheitssystem.
Vor allem junge Leute protestierten im Oktober gegen Missstände im marokkanischen Bildungs- und Gesundheitssystem.

Der Zorn vieler junger Marokkaner wirkt nach – und könnte den Modernisierungskurs des Landes gefährden. Im Oktober gingen Tausende in den Großstädten auf die Straße, zeigten Transparente und skandierten wütende Parolen. Vor allem die Generation Z organisierte ihre Proteste spontan über soziale Medien, ohne erkennbare Führung oder Hierarchie.

Auslöser dafür waren Berichte über den Tod von drei schwangeren Frauen, die in staatlichen Krankenhäusern nicht ausreichend behandelt worden waren. »Die Gesundheits- und Bildungssysteme stecken in der Krise«, sagt Basma El Atti, Korrespondentin des Medienportals »The New Arab«. »In manchen Regionen Marokkos liegt die Arbeitslosigkeit sogar bei über 20 Prozent.«

An einigen Tagen wurden die Proteste von Gewalt überschattet. Unbekannte setzten Geschäfte und Banken in Brand und versuchten, eine Polizeiwache zu stürmen. Der Staat mobilisierte Tausende Sicherheitskräfte. Bei Zusammenstößen starben mindestens drei Menschen. Die große Mehrheit der Demonstrierenden jedoch blieb friedlich. Sie riefen: »Das Volk will Bildung« und »Gesundheit statt Fußball«.

Die Proteste wirken bis heute nach – auch an diesem Sonntag, wenn in Marokko die Fußball-Afrikameisterschaft beginnt. Für 2030 plant das Land gemeinsam mit Spanien und Portugal die Weltmeisterschaft. In einem Vorort von Casablanca entsteht dafür das größte Stadion der Welt mit 115 000 Plätzen, Kosten: 430 Millionen Euro. Wieder stellt sich die Frage, ob ein Land mit großer sozialer Ungleichheit eine milliardenschwere Fußballoffensive stemmen kann.

Der bekannte Sportjournalist Amine El Amri blickt dennoch optimistisch in die Zukunft. »Viele Menschen fürchten sich vor Wandel, aber er ist notwendig«, sagt er. Marokko werde sich von einem Agrarland zu einem Zentrum für Tourismus und Dienstleistungen entwickeln. »Dafür braucht es Straßen, Flughäfen und Hotels. Der Fußball kann diesen Prozess beschleunigen.«

In Afrika hat Marokko Ägypten inzwischen als meistbesuchtes Reiseland abgelöst. Bis zur WM 2030 soll sich die Zahl der Touristen auf 26 Millionen verdoppeln. Dafür plant die Regierung einen massiven Ausbau der Hochgeschwindigkeitsstrecken. Auch die Flughäfen sollen bis 2030 ihre Kapazität auf 80 Millionen Passagiere pro Jahr erhöhen – bislang sind es knapp 40 Millionen. Durch die WM erhofft sich die Regierung ein zusätzliches Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent sowie jährlich rund 100 000 neue Vollzeitarbeitsplätze.

Soziale Gegensätze im Land

Am Sonntag beginnt in Marokko der Africa Cup of Nations.
Am Sonntag beginnt in Marokko der Africa Cup of Nations.

In der Darstellung der Regierung soll die Weltmeisterschaft den Staat höchstens fünf Milliarden Euro kosten – deutlich weniger als frühere Turniere in Brasilien, Russland oder Katar. Für Marokko könnte das dennoch zur langfristigen Belastung werden. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt jährlich bei rund 3400 Euro, in Deutschland sind es etwa 51 000 Euro.

Tatsächlich entwickelt sich das Land in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Nahe der Hauptstadt Rabat entstand zuletzt der neue Campus des marokkanischen Fußballverbandes, benannt nach König Mohammed VI. Rasenplätze reihen sich dort aneinander, ergänzt durch Fitnesszentrum, Schwimmanlage und Hotel. Die Kosten: mehr als 30 Millionen Euro. Gleichzeitig leben mehr als zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben im Atlasgebirge noch immer Hunderte Überlebende in Zelten – viele ohne verlässlichen Zugang zu Strom, Wasser oder medizinischer Versorgung.

Amine El Amri ist überzeugt, dass die aktuellen Investitionen weit über den Sport hinausreichen werden. Marokko wolle künftig verstärkt internationale Jugendturniere und Verbandskongresse ausrichten. Zudem tragen mehrere Nationalteams aus Subsahara-Afrika, die nicht über Stadien nach internationalem Standard verfügen, ihre Heimspiele in Marokko aus. Das Land liege geografisch am Rand Afrikas, erläutert der Journalist. »Doch über die Fußballnetzwerke können neue politische und wirtschaftliche Beziehungen auf dem Kontinent entstehen.«

Noch vor zehn Jahren war an eine solche Offensive kaum vorstellbar. Vor dem Zuschlag für die WM 2030 hatte sich Marokko fünfmal vergeblich um die Ausrichtung des Turniers beworben. 2015 sollte immerhin der Afrika-Cup im Land stattfinden. Doch mehrere westafrikanische Staaten waren damals von einer Ebola-Epidemie betroffen, Marokko wollte das Turnier verschieben. Der afrikanische Fußballverband CAF lehnte ab und verlegte die Meisterschaft nach Äquatorialguinea. Der Konflikt belastete Marokkos Stellung auf dem Kontinent.

Anspruch als Regionalmacht

Das Verhältnis zu vielen westafrikanischen Staaten war ohnehin lange angespannt, weil Marokko die Westsahara für sich beanspruchte und zahlreiche Nachbarn dies ablehnten. Nach dem Austritt aus der Afrikanischen Union 1984 trat die Regierung in Rabat lange diplomatisch auf die Bremse, bevor das Land 2017 wieder Mitglied wurde. Mittlerweile haben sich die Wogen geglättet. »Marokko will sich nun als unverzichtbares Bindeglied zwischen Afrika und Europa positionieren«, sagt der Islamwissenschaftler Jakob Krais von der Universität der Bundeswehr in München.

Der Fußball soll diesen Anspruch als Regionalmacht untermauern. Präsident des marokkanischen Fußballverbandes ist Fouzi Lekjaa. Der einflussreiche Funktionär begleitet die Organisation der WM, ist Mitglied des Fifa-Rates und Vizepräsident des afrikanischen Fußballverbandes. Zugleich berät er das marokkanische Finanzministerium in Haushaltsfragen. Die Fifa sieht darin offenbar keinen Interessenkonflikt: In Marrakesch richtet sie derzeit ihre erste Niederlassung auf dem afrikanischen Kontinent ein.

Fußball und Politik sind in Marokko seit mehr als 100 Jahren eng miteinander verwoben. Im frühen 20. Jahrhundert gründeten die Kolonialmächte Frankreich und Spanien die ersten Vereine – Muslime durften zunächst nicht mitspielen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden neu gegründete marokkanische Klubs jedoch zu Treffpunkten der Unabhängigkeitsbewegung. »Es war damals nicht leicht, eine Partei zu gründen, aber der Fußball galt als unpolitisch«, sagt Jakob Krais.

Die heute wichtigsten Vereine entstanden zu jener Zeit: Wydad Casablanca, anfangs ein Schwimmverein, später Serienmeister im Fußball. Oder der Stadtrivale Raja Casablanca, gegründet 1949 von Gewerkschaftern und Juristen. Raja steht für »Hoffnung«, die Trikots sind grün – die traditionelle Farbe des Islam. Nach der Unabhängigkeit 1956 mischte sich vor allem König Hassan II. in den Vereinen ein. Er gründete einen Militärklub und platzierte Vertraute aus Staat und Geheimdienst in den Vorständen.

International blieb die marokkanische Nationalmannschaft lange bedeutungslos. Erst im neuen Jahrtausend leitete der Verband einen Wandel ein: Talentscouts suchten in Westeuropa gezielt nach Kindern und Enkeln marokkanischer Auswanderer. Der Erfolg zeigte sich 2022 bei der Weltmeisterschaft in Katar, als Marokko als erstes afrikanisches Team überhaupt das Halbfinale erreichte. Fast 70 Prozent der Spieler waren in Frankreich, Spanien oder den Niederlanden aufgewachsen. »Die große Diaspora ist eng mit Marokko verbunden«, sagt Amine El Amri. »Überweisungen aus Europa gehören zu den wichtigsten Einnahmequellen des marokkanischen Staates.«

Seit dem Erfolg von 2022 gilt die Nationalmannschaft bei der Afrikameisterschaft als Favorit. Doch die Vorfreude hält sich in Grenzen. Nach den Protesten im Oktober haben Staatsanwaltschaften mehr als 2400 Menschen angeklagt. Menschenrechtsorganisationen rechnen damit, dass der Staat die Repression weiter verschärfen wird. Noch ist offen, wie die junge Generation auf den Afrika-Cup reagieren wird.

Fans unterstützen die Proteste

Ein Gradmesser für die Stimmung im Land sind die Stadien. Dort geben Ultras den Ton an – hartgesottene Fans mit lauten Gesängen und aufwendigen Choreografien, die oft ganze Tribünen füllen. Im Oktober jedoch boykottierten viele Ultras die Spiele, um ihre Solidarität mit den Demonstrierenden zu zeigen. »Von Anfang an war unsere Gruppe ein Spiegelbild der Nachbarschaft«, sagt Nawras, ein Gründungsmitglied der »Winners«, der wichtigsten Ultra-Gruppe des Traditionsklubs Wydad Casablanca. »Unter unseren Mitgliedern gibt es Gutverdiener ebenso wie Arbeitslose.«

Nach ihrer Gründung im Jahr 2005 bemalten die »Winners« ihre Banner noch am Strand. Inzwischen zählen sie rund 12 000 Mitglieder und verstehen sich als soziales Netzwerk. Die Gruppe verfügt über Vertreter in rund 30 Stadtteilen Casablancas, teils mit eigenen Räumlichkeiten, Cafés oder Geschäften. »Die Verantwortung für Choreografien wird jeweils an zwei oder drei Stadtteile übertragen«, sagt Nawras. »Sonst würde Chaos herrschen.«

Zwischen 2005 und 2011 orientierten sich die Ultras stark an europäischen Vorbildern. Dann kam der Arabische Frühling. In Casablanca beteiligten sich die »Winners« an Demonstrationen und Sitzstreiks. Nach einigen Monaten beruhigte sich die Lage. In den Stadien aber sangen die Ultras fortan über korrupte Behörden, aggressive Polizisten und die Flucht nach Europa.

Seither stehen die Ultras unter staatlicher Beobachtung. Mehrfach versuchten die Behörden, Fangruppen aufzulösen. »Die Freizügigkeit ist vorbei«, sagt Nawras. Ob er sich freut, dass sein Lieblingsverein bald in das größte Stadion der Welt umziehen soll? Nawras schüttelt den Kopf. »Nein. Wir kennen unsere Grenzen. Dieses Stadion ist groß – viel zu groß.«

Am Sonntag beginnt die Afrikameisterschaft. Dann wird sich zeigen, ob Marokkos Jugend den Fußball noch als ihr Fest begreift – oder ob leere Ränge von einer Generation künden, die »Gesundheit statt Fußball« fordert. Das Turnier wird entscheiden, ob der Fußball das Land wirklich modernisiert oder zum Symbol einer Entwicklung wird, die an vielen vorbeigeht.

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