Die Trinkerin

Alkoholmissbrauch in seiner weiblichen Form

  • Andrea Gerecke
  • Lesedauer: 6 Min.

Männer tun es in aller Öffentlichkeit, Frauen dagegen eher heimlich: »sich die Kante geben«. Beim starken Geschlecht ist es der anerkannte Gang zum Stammtisch, das regelmäßige Bierchen zum Feierabend in der Eckkneipe. Die Damen hingegen bevorzugen die zurückgezogene Variante, aber eben auch schon das Piccolöchen in den Vormittagsstunden im Kollegenkreis. Gern wird die Verniedlichungsform genutzt, um das Laster herunterzuspielen.

Alkohol ist die am meisten verbreitete Droge hierzulande und Alkoholismus die häufigste der substanzgebundenen Abhängigkeiten. In Deutschland gibt es etwa 370 000 alkoholabhängige Frauen. Der Missbrauch ist unter ihnen weiter verbreitet als angenommen. Mehr als jeder vierte Alkoholkranke gehört dem weiblichen Geschlecht an. Insgesamt wird von etwa 1,3 Millionen Abhängigen ausgegangen. Doch die Dunkelziffer dürfte durchaus höher liegen. Außerdem setzt der Griff zur Flasche immer früher ein. Bei den Zehn- bis 15-Jährigen stellten die Mädchen 2008 einen traurigen Rekord auf. 2400 Heranwachsende kamen da mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus. Bei den Jungen waren es »nur« 2100.

Werbung für Alkohol rieselt täglich auf uns hernieder. Mit einer Kiste Bier kann man ein Stück Regenwald retten, das Frischgezapfte ist die Belohnung für einen harten, aber erfolgreichen Tag Arbeit. Die Pralinen mit der hochprozentigen Füllung sind das angesagte Geschenk für alle. Alkohol gilt auch gern als Medizin. Der kleine Verdauer nach dem üppigen Essen muss eben sein!

Alkohol, in Maßen genossen, ist sicherlich eine Bereicherung. Aber so mancher bekommt die Kurve nicht. Vom Genuss zur Sucht ist es nur ein kleiner Schritt. Plötzlich herrscht nur noch ein Drang nach Hochprozentigem vor. Man (Frau) verliert die Übersicht über die Mengen. Wenn ein oder zwei Tage ohne Alkohol vergehen, zittern die Hände, das Herz jagt, und eine innere Unruhe lässt einen schlecht schlafen. Werden dann noch Hobbys und Interessen vernachlässigt, gibt es Probleme mit Freunden oder der Arbeit, sollten die Alarmglocken läuten. Zur seelischen Abhängigkeit, bei der das Suchtmittel zum Dreh- und Angelpunkt aller Handlungen, Gefühle und Gedanken wird, gesellt sich die körperliche. Der Organismus reagiert auf die ständige Zufuhr mit einer Veränderung des Stoffwechsels. Folgt kein Nachschub, treten Entzugserscheinungen auf, die beim nächsten Glas rasch wieder abflauen.

Abhängige sind erfinderisch. Sie verstecken ihr Laster sogar vor sich selbst. Leergut entsorgt die geübte Trinkerin unauffällig – in der Sauna im Papierkorb bei den Umkleidekabinen, im Supermarkt bei der Flaschenannahme im daneben stehenden Abfallbehälter. Die Herren dagegen werfen die leeren Pullen gern aus dem Auto locker in die Botanik. Pfefferminzpastillen gegen die Fahne gehören ins Dauergepäck (bei beiden).

Vieles liegt in den Genen! Töchter von alkoholabhängigen Müttern sind besonders gefährdet und haben oft die nächste Suchtkarriere vor sich. Die Vorbildwirkung in der Familie spielt eine ganz große Rolle. Aber auch bei Älteren steht das Thema an. Erstaunlicherweise liegen hier deutlich die Akademikerinnen vorn – entschuldigt wird mit einem Übermaß an Stress. Prävention und Hilfe sollten ein Anliegen der Gesellschaft sein. Selbsthilfegruppen beispielsweise der Anonymen Alkoholiker, der Angehörigen von Suchtbetroffenen, der erwachsenen Kinder suchtkranker Eltern leisten gute Arbeit. Wer sich näher informieren möchte, schaut am besten im Internet auf die Seiten der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen unter www.dhs.de.

Abstinenzgruppen, Blaukreuzgruppen, Freundeskreise – es gibt viele Anlaufpunkt für Hilfsmöglichkeiten. Beim Blauen Kreuz allein sind es 1100 Selbsthilfegruppen und Gesprächskreise, die wöchentlich von etwa 22 000 Suchtkranken und ihren Angehörigen besucht werden. In Großstädten ist die Auswahl nahezu gigantisch, aber selbst im ländlichen Bereich gestalten sich die Angebote ausgesprochen vielseitig. Wichtig ist für viele ja auch, dass ihre Anonymität gewahrt bleibt. Und so nehmen Berliner Trinker endlos lange Touren quer durch die Stadt auf sich, um am anderen Ende in einer Gruppe Halt zu finden. Andere wieder sind Woche für Woche und mitunter an mehreren Abenden in den verschiedensten Gruppen anzutreffen. Der Austausch hilft, das ähnliche Schicksal lässt das eigene Schamgefühl und schlechte Gewissen besser ertragen. Man wird aufgefangen, als wäre man in einer Familie. Nur den ersten Schritt muss man tun, um dann in der Runde zu sitzen und zu erfahren, dass Karin P. eine Schule leitet und lange Zeit erst nach einer Flasche Rotwein anfangen konnte zu arbeiten. Dann ließ das Zittern der Hände nach. Eine nach der anderen erzählt ihre Geschichte, kurz und relativ sachlich, als würde sie von jemand anderem berichten. Es gibt übrigens neben den gemischten auch rein weibliche Gesprächsgruppen.

Chefarzt Prof. Dr. Udo Schneider, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Krankenhäuser Lübbecke/Rahden (sie gehören zum Verbund der Mühlenkreiskliniken), leitet die Abteilung Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik. Er hat auf dem Gebiet Sucht einst habilitiert. »Alkoholiker haben psychische Probleme und Menschen mit psychischen Problemen greifen gern zur Droge Alkohol«, stellt er fest. Und die Frauen sind leider auch dabei im Kommen. Nun ist es dem Rollenverständnis des weiblichen Geschlechts zuzuordnen, dass das Trinken in der Öffentlichkeit hier eher stigmatisiert ist. Also findet es bei Frauen meist heimlicher statt. »Aber inzwischen sind es die Damen ab 40, gut situiert, beruflich erfolgreich, geschieden – die sich in meiner Praxis einfinden. Bei der älteren Generation sprechen wir eher von den Klosterfraumelissengeisttypen.«

Der männliche Organismus baut das Zellgift Alkohol anders ab als der weibliche, was mit den Enzymen zusammenhängt – es gibt eben Unterschiede, ob man die wahrhaben will oder nicht! Deshalb wird in Ratgebern für Frauen eine niedrigere Tagesdosis angegeben, die unverfänglich wirkt. Abstand gewinnen, runterfahren vom Stress – das sind die Argumente, die Männer und Frauen gleichermaßen anführen, wenn es um das Thema geht. Nach einer Untersuchung von Prof. Schneider geraten Frauen eher als Männer in die Abhängigkeit, wenn sie regelmäßig dem Alkohol zusprechen. Sie bevorzugen Wein und Sekt, weniger die harten Sachen. Depressionen, Ängste, posttraumatische Belastungsstörungen sind häufig Begleiterkrankungen. »Und es gibt eine hohe genetische Disposition«, unterstreicht der Fachmann und verweist auf ein Suchtgedächtnis, das dem Menschen eigen ist. Wenn dieses vorrangig an positive Erfahrungen appelliert, dann ist die Vernunft ausgehebelt. »Wenn ich einmal zu viel trinke, dann habe ich einen Kater, und mir ist hinterher drei Tage lang schlecht. Also lasse ich die Finger von zu viel Alkohol«, so Schneider. »Jemand, der ohne Kater nach durchzechter Nacht aufwacht, der wird leichter abhängig und bleibt es ein Leben lang. Es ist dann nur die Frage, wie man damit umgeht.«

Es ist nicht nur die Leber, die durch Wein und Bier und Schnaps geschädigt wird. Andere Organe spielen ebenfalls auf die Dauer nicht mit: Herz, Bauchspeicheldrüse, Nerven, Haut, Gehirnzellen. Bei 15 bis 30 Prozent aller stationären Behandlungen in Krankenhäusern spielt Alkohol als Verursacher eine Rolle, ob nun bei Unfällen oder anderen Erkrankungen.

Der Psychiater wäre auch für ein generelles Alkoholverbot beim Autofahren. Für ihn liegt das Problem unter anderem in der sozialen Anerkennung des Alkohols durch die Gesellschaft.

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