40 Meter bis zur rettenden Sandbank

Letzte Tote der »Bulgaria« geborgen, erdrückende Beweise für Schlamperei und Gleichgültigkeit

  • Irina Wolkowa, Moskau
  • Lesedauer: 3 Min.

Neben den letzten acht Leichen bargen Rettungsmannschaften aus der »Bulgaria«, die vor zwei Wochen auf dem Kuibyschewer Meer – einem Wolga-Stausee – mit 201 Menschen an Bord gesunken war, gestern auch das Logbuch. Die letzte Eintragung nahm der Kapitän offenbar vor, als ihm das Wasser im Wortsinn bereits bis zum Hals stand. Demzufolge versuchte die Besatzung, eine Sandbank zu erreichen. Der Kiel des Schiffes, so offenbar das Kalkül, hätte sich dann im Schlamm festgefressen. Das wiederum hätte die Krängung – die bedenkliche Schieflage des Schiffes – gemildert, das Eindringen von Wasser verhindert und die Evakuierung der Passagiere ermöglicht.

Dass die Eintragung der Wahrheit entspricht, ergab auch die erste Belichtung des Maschinenraums gestern, kaum, dass die »Bulgaria« gehoben und ins flache Wasser bugsiert wurde. Die Schiffsdiesel waren auf höchste Leistung und volle Kraft voraus eingestellt. Und fast wäre das Manöver auch gelungen: Von der Unglücksstelle in 25 Meter Tiefe, wo die »Bulgaria« am 10. Juli in weniger als zehn Minuten in den Fluten versank, waren es noch nicht einmal vierzig Meter bis zur rettenden Sandbank.

So nahm indes die Katastrophe – die bisher größte in der Geschichte der russischen Binnenschifffahrt – ihren Lauf. Nur 79 Passagiere konnten gerettet werden. 122 – darunter 28 Kinder – starben einen qualvollen Tod. Ähnlich dramatisch wie der Untergang der »Bulgaria« gestalteten sich auch die Bergungsarbeiten, die sich trotz Spezialtechnik aus Wolgograd und St. Peterburg fast eine Woche lang hinzogen.

Zunächst scheiterte die Hebung an heftigem Wind, der auf dem Stausee für über zwei Meter hohe Wellen sorgte. Dazu kam, dass sich die Taucher durch eine fast zwei Meter dicke Schlammschicht kämpfen mussten. Dann rissen mehrfach die unter den Rumpf geschobenen Metallbänder und die Trossen. Erst am Samstag gelang es, das Wrack an die Wasseroberfläche zu heben. Pumpen saugten das eingedrungene Wasser ab, danach wurde der Rumpf hermetisch versiegelt, um die Schwimmfähigkeit wiederherzustellen.

Sonntag konnte das Wrack dann endlich von Schwimmkränen in flaches Wasser gezogen werden. Bugsierschiffe schleppten es gestern zu einem flussaufwärts gelegenen Dock. Dort soll es auch abgewrackt werden. Eine Generalüberholung lohnt sich bei dem über fünfzig Jahre alten Pott nicht mehr. Erwogen wird inzwischen sogar, alle Flusskreuzfahrtschiffe dieses Alters auszumustern.

Bevor Schneidbrenner und Metallsägen zum Einsatz kommen, werden jedoch Kriminalisten ihre Arbeit tun. Derzeit gilt mangelnde technische Wartung als wahrscheinlichste Unglücksursache. Die Direktorin der Flusskreuzfahrt-Gesellschaft, die um den bedenklichen Zustand der »Bulgaria« wusste und das Schiff dennoch auf die Reise schickte, sowie ein Beamter der staatlichen Zulassungsbehörde, der – ebenfalls wider besseres Wissen – die dazu erforderliche Genehmigung ausstellte, sind bereits verhaftet. Gegen die Kapitäne zweier Schiffe, die der sinkenden »Bulgaria« nicht zur Hilfe kamen, wird ebenfalls ermittelt. Zwar leugnen sie bisher alle Schuld und wollen nichts bemerkt haben. Hiesige Medien indes melden unter Berufung auf verlässliche Quellen in der Ermittlungsbehörde bei der Generalstaatsanwaltschaft, die Beweislast sei in beiden Fällen »erdrückend«.

Behauptungen Überlebender, die auch von vielen westlichen Medien übernommen wurden, wonach die Besatzung permanent betrunken war, sind dagegen offenbar frei erfunden.

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