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Dem Prekariat feindlich gesinnt

Alexander Clarkson über Hysterie und Sparpolitik der britischen Regierung

  • Lesedauer: 5 Min.
Während sich die Situation in London in der Nacht zu Mittwoch entspannte, griffen die Unruhen auf andere britische Städte über. Als Wurzel der Gewalt sehen viele Beobachter die prekäre Situation der an den Ausschreitungen beteiligten Jugendlichen. Die Regierung droht mit Härte.
Alexander Clarkson wuchs in Deutschland auf und studierte in Großbritannien. Der Politikwissenschaftler lehrt am King's College – einer der ältesten und renommiertesten Hochschuleinrichtungen Englands.
Im Interview mit Antje Stiebitz vertritt er ausdrücklich seine persönliche Meinung.
Alexander Clarkson wuchs in Deutschland auf und studierte in Großbritannien. Der Politikwissenschaftler lehrt am King's College – einer der ältesten und renommiertesten Hochschuleinrichtungen Englands. Im Interview mit Antje Stiebitz vertritt er ausdrücklich seine persönliche Meinung.

ND: Premierminister David Cameron hat den Krawallmachern harte Strafen angekündigt. Ist seine Reaktion angemessen?
Clarkson: Das hängt davon ab, wie man »hart« definiert. Cameron hat unüberlegt reagiert und das ist zutiefst problematisch. Doch man muss auch sagen, dass es von der konservativen Rechten bereits Rufe nach dem Einsatz der Armee und von Gummigeschossen gab, das ist hart. Solche Überreaktionen wollte Cameron eindämmen. Er befindet sich in einer sehr schwierigen Lage. Er wird von Labour, aber auch von der liberaldemokratischen Partei, die Teil seiner Koalition ist, für die ganzen Kürzungen der Sozialprogramme, die zum Teil an diesem Schlamassel schuld sind, mitverantwortlich gemacht. Und er steht unter dem Druck der konservativen Rechten, die ihn für das systemische Versagen der Polizei verantwortlich machen.

Was halten Sie an seiner Reaktion für unüberlegt?
Er hat den Begriff »fight-back« verwendet. Der Ausdruck stammt eigentlich von der britischen Zeitung »Daily Mail«. Und Cameron hat geäußert, dass dies auch eine Zeit des Widerstandes sei. Das ist auf der einen Seite gut, geht es um zivilen Widerstand. Aber auf der anderen Seite bilden sich in mehreren Londoner Stadtteilen jetzt Bürgermilizen. Es bilden sich da Selbstschutzgruppen, auch mit ehemaligen Irak- und Afghanistansoldaten. Diese Form der »systemstabilisierenden Selbstjustiz« kann entgleisen. Beispielsweise haben sich die indischen Sikhs oder auch muslimische Organisationen zum Selbstschutz organisiert. So etwas kann schnell aus dem Ruder laufen.

Warum ist aus Ihrer Sicht so wenig von der Perspektivlosigkeit der Jugend, von sozialen Kürzungen, von Rassismus und einer sich schamlos bereichernden Elite die Rede?
Von gewissen Seiten wird durchaus auf diese Probleme eingegangen. Doch was gerade passiert, sind Panikreaktionen. Es handelt sich schließlich auch um kriminelle Verhaltensweisen. Gerade die Kommentarseiten der üblichen Zeitungen haben durchaus davon gesprochen, dass es hier starke soziale Hintergründe gibt. Ich denke, darüber wird in den nächsten Wochen und Monaten gesprochen werden. Zur Zeit herrscht wirklich Panik und Hysterie. Um auf diese Probleme systematisch einzugehen, braucht man Wochen der Reflexion. Dafür ist es noch zu früh. Ich würde auch nicht sagen, dass es um Rassismus geht. Es geht um eine tiefe Abneigung und Feindlichkeit der Oberschicht gegenüber dem Prekariat. Diese randalierenden Gruppen bestehen aus weißen, aus asiatischen und afrikanischen Jungs.

Es wird immer davon gesprochen, dass es sich bei den Randalierern um eine »bestimmte Schicht« handelt, so, als seien Schichten etwas Gottgegebenes. Aber diese Schichten werden von der Politik kreiert. Warum wird das nicht stärker thematisiert?
Weil die drei Mainstream-Parteien versuchen, ihre gescheiterte Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verschweigen. Das ist eine sehr unbequeme Frage. Da sprechen wir über 20 oder 30 Jahre der gescheiterten Politik. Da müssen sich die Parteien eingestehen, dass sie nicht erfolgreich gearbeitet haben. Darin liegt paradoxerweise die Chance für Labour-Chef Ed Miliband, denn er verkauft sich als derjenige, der mit der Tony-Blair-Zeit bricht. Wenn er selbstkritisch mit der Situation umgeht, kann er Kapital daraus schlagen. Denn das Thema der sozialen Ungerechtigkeit, des Prekariats, liegt brach. Die andere interessante Komponente sind die schottischen Nationalisten. Das wird in Deutschland sehr unterschätzt. Sie könnten jetzt behaupten, dass Schottland seine Unabhängigkeit braucht, um den sozialen Frieden zu wahren.

Glauben Sie denn, dass der Sparkurs jetzt geändert wird?
Das ist die große Frage. Es wird wieder in die Polizei investiert werden, da die stark abgebaut wurde. Das ist einer der Gründe, warum in den ersten zwei Tagen so viele Fehler gemacht wurden. Und die höhere Führungsebene ist noch mit dem Murdoch-Skandal beschäftigt. Die Sergeants der mittleren Führungsebene müssen sich jetzt neu um ihre Stellen bewerben. Die Polizei ist also auch mit sich selbst beschäftigt. Und diejenigen, die zwischen Polizei und Bevölkerung vermittelt haben, sind alle in ihrer Existenz bedroht.

Wann hat der Sparkurs begonnen?
Viele der sozialen Organisationen wurden während der Deindustrialisierung der Thatcher-Zeit gegründet. Und sie wurden zum größten Teil auf lokaler Basis finanziert, nicht von der Zentralregierung. Was die Zentralregierung wegkürzte, fing die lokale Basis auf. Doch die Kommunen stehen jetzt selbst so unter finanziellem Druck, dass sie es nicht mehr auffangen können.

Ist das, was jetzt gerade passiert, das britische Pendant zu den Aufständen in den Pariser Banlieues und sehen sie einen Zusammenhang zu den Aufständen der arabischen Jugend?
In den Banlieues damals gab es wenigstens Strukturen. Es gab Führungspersönlichkeiten innerhalb der Viertel, die Einfluss ausüben konnten. Es gab Menschen, mit denen man verhandeln konnte. Manche der Forderungen waren abstrus oder nicht machbar, aber es gab immer einen politischen Faktor. Doch mit wem soll man hier verhandeln? Die sozialen Organisationen, die vermittelt hätten, sind weggekürzt worden und die Plünderer selbst haben keine Chefs. Es ist ein krasser Materialismus, der da hochkommt.

Sehen Sie Lösungen?
Durch die Sicherheitsmaßnahmen, die jetzt ergriffen werden, wird sich die Lage wahrscheinlich beruhigen. Doch eigentlich müsste die Regierung eine völlige Kehrtwende in der Sozialpolitik durchführen. Die sozialen Programme wieder aufbauen, eine Wirtschaftsbasis aufbauen. Sehen Sie, England ist viel deindustrialisierter als Deutschland oder die USA. Wir brauchen Perspektiven für Menschen jeglichen Talents und jeglicher Herkunft, die manchmal nicht akademisch oder für die Dienstleistungsindustrie veranlagt sind. Das ist alles nicht so einfach zu lösen.

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