Küsse durch Maschendraht

»Westwind« von Robert Thalheim

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Zweiundzwanzig Jahre nach ihrer Republikflucht war Doreen noch einmal an dem Ort, von dem es sie damals in den Westen zog, der Liebe wegen – auf Motivsuche für einen Film über ihre lebensverändernde Entscheidung im Sommer 1988. »Westwind« heißt der Film, inszeniert wurde er von Robert Thalheim – und produziert von Doreens Zwillingsschwester, die sich damals dafür entschied, im Osten zu bleiben. Im Film heißen die Mädchen nun Doreen und Isabel Zimmermann und sind nicht mehr Handballerinnen wie einst im wirklichen Leben, sondern Ruderer. Ihre Prämie für die eben errungene Bezirksmeisterschaft im Zweier ohne ist ein Trainingsaufenthalt in einem Pionierlager am Balaton. Dieses Pionierlager steht heute noch, anscheinend völlig unverändert, und dort, wo damals alles seinen Anfang nahm – oder sein Ende, je nachdem –, wurde die wahre Geschichte der Zwillinge denn auch gedreht.

Im Sommer 1988 stehen die erfolgreichen Schwestern vor dem Umzug in die Hauptstadt, vor einer vielversprechenden Karriere im Spitzensport, als ein orangeroter VW-Käfer mit zwei angehenden Hamburger Studenten auf Ungarn-Urlaub ihre perfekte Symbiose durcheinanderbringt. Es sind die Schallplatten im Lädchen vor dem Busbahnhof, die zur ersten Begegnung mit den Westlern führen. Weil dort Musik von der Scheibe rumsteht, die zu Hause »nur bei Westwind« zu empfangen ist, wie die Mädchen den Hamburger Jungs später lachend erzählen, verpassen sie den Bus ins Lager. Und lassen sich vom Klassenfeind im Auto mitnehmen, um nicht den ganzen Weg zu Fuß gehen zu müssen. Eine erste Begegnung, die zu weiteren führt. Tagsüber wird trainiert, Kraft, Ausdauer, der gemeinsame Rhythmus. Abends geht's über den Zaun in die Disco, die Haare mit Ananassaft zurückgegelt, kräftig geschminkt, wie man das in den Achtzigern so machte, zum heimlichen Treffen mit den Käferfahrern.

Doreen (Friederike Becht) findet in Arne, einem der beiden Hamburger, eine erste große Liebe. Für Isabel (Luise Heyer) und Nico, den anderen Hamburger, bleibt es beim neugierigen Interesse füreinander. Während Doreen Wege findet, sich öfter mit Arne zu treffen als für ihre weitere Karriere klug ist, sitzt Isabel alleine im Lager und erfindet Ausreden, wenn die Schwester wieder zu spät kommt. Dass es offiziell verpönt ist, die zufälligen Westkontakte weiter zu pflegen, brauchte ihr Trainer ihnen eigentlich kaum zu sagen. Er tut es trotzdem, als er Ostjugend und Westjugend beim gemeinsamen Volleyballspiel »erwischt«. Da zeigen die Ostjungs Imponiergehabe, die Westjungs sind vor allem naiv – und die Mädchen peinlich berührt, weil noch keine der beiden irgendwelche Pläne hegt, sich weiter mit dem Leben jenseits der Mauer zu befassen.

Wenig später führen die Traditionslücken zwischen den beiden deutschen Staaten zu Gelächter, weil für die einen Trinkröhrchen sind, was für die anderen Strohhalme heißt, und die Mädchen sich auf die Hauptstadt freuen, die die Jungs bei einem früheren Besuch vor allem eines fanden: farbfrei. Die erste Cola wird zögerlich entgegengenommen, als wäre schon dieser Moment Staatsverrat, und dann mit verschmitztem Lächeln getrunken. Bald aber werden die Jungs zum Keil zwischen den Zwillingen. Sie ersinnen die Idee mit der Hutablage, unter der sich ein Mensch verstecken lässt. Und die Schwestern stehen vor einer Entscheidung, die immer automatisch beide impliziert, denn eine Schwester in Hamburg, die andere in Berlin (Ost) im Ruderkader – diese Möglichkeit gibt es für sie nicht. So ist »Westwind« ein Film über eine Mauer, die ein Land teilt, und über Küsse, die durch Maschendraht getauscht werden. Aber auch und vor allem ein Film über Zwillingsschwestern, die mit der Liebe den Punkt erreichen, an dem sie nicht mehr alle Erfahrungen teilen können.

credo:film, die Produktionsfirma, deren Geschäftsführerin die Schwester heute ist, die im Film Isabel genannt wird, hat zuletzt mit »Unter Kontrolle« von sich reden gemacht, Volker Sattels brillantem Essayfilm über die Atomkraft als Utopie der Vergangenheit. Sie hat »7 Brüder« produziert, Sebastian Winkels zeitdokumentarischen Abschlussfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf, und Martin Gypkens Kinodebütfilm »Wir«. »Westwind« ist vielleicht ein bisschen zu nett, um an diese Filme heranzureichen.

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