Pathos, Kitsch – Revolution!

Arbeiter- und Freiheitslieder aus 150 Jahren – eine Sammlung auf zwölf CDs

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Berliner Musikhistoriker Jürgen Schebera hat sich der Mühe unterzogen, Hunderte von seltenen Aufnahmen und Tondokumenten zusammenzustellen, von denen die meisten jahrzehntelang in vermutlich nur von Wissenschaftlern frequentierten Archiven gelagert haben, darunter auch zahlreiche Schellackplatten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Herausgekommen sind dabei vier dicke Boxen, die jeweils drei CDs beinhalten. Darauf enthalten: Arbeiter- und Freiheitslieder, die in der Zeit zwischen 1844 und 1990 entstanden sind. Kampfgesänge, in denen das Elend des Arbeiterstandes beklagt und gleichermaßen dazu aufgerufen wird, den Herren Fabrikanten, »Geldsäcken« und Ausbeutern die Macht zu entreißen. Vom »Volk« ist viel die Rede und vom »Vaterland«, von vergossenem »Arbeiterblut« und von fließenden Tränen. Frei von Pathos und Kitsch sind Gesänge und Fanfaren der Revolution ganz und gar nicht: »Wut« reimt sich auf »Blut«, »roter Gru-uß« auf »Spartaku-us« – der »Kampf« unter dem »Banner der Freiheit« gegen den gemeinsamen »Feind« eint die Arbeiterschaft.

Von Gesängen über die gescheiterte Revolution von 1848 und Klassikern aus der Frühzeit der Arbeiterbewegung über die Lieder von Brecht und Eisler bis hin zu den Agitprop-Folksongs der linkssozialdemokratischen, friedensbewegten und DKP-Liedermacher der siebziger Jahre ist hier alles Liedgut versammelt, das zur linken Gemeinschaftsbildung ebenso unverzichtbar ist wie zum Beschallen von Ostermärschen. Spätestens seit der Nachkriegszeit diente, wie Jörg Sundermeier in der »taz« festgestellt hat, das Arbeiterkampflied nämlich vor allem »vielen Linken zur Selbstversicherung der eigenen politischen Identität«.

Wer die Nerven dazu hat – und die benötigt man –, kann sich einen kompletten Tag lang durch das Material hören, ohne eine einzige der CDs ein zweites Mal in den Player legen zu müssen. Bei genauem Zuhören wird man einiges entdecken, was insbesondere der Kultur der deutschen Arbeiterbewegung zu eigen ist, etwa die bedenkenlose Glorifizierung der (körperlichen) Arbeit als Wert an sich, das aus Neid und protestantischer Moral erwachsende Ressentiment gegen Luxus und Hedonismus oder die geradezu religiöse Inbrunst, mit der man sich seinem Ideal oder der Partei verschreibt.

Betrachtet man einen Großteil dieser Musik unter rein formalen Aspekten, lässt also die Geste des Widerständischen und Anklagenden außer acht, fällt unweigerlich das Strukturkonservative des kämpferischen Arbeiterliedes auf: Wir hören sich und ihre politische Mission überaus wichtig nehmende Barden, die an ihren Klampfen herumzupfen, kreuzbrave Gesangsquartette und Lieder schmetternde Arbeiterchöre, gescheitelte Herren mit oder ohne Parteibuch, die mit schlechten Versen, zackigem Marschgetrommel und penetrantem Schalmeiengetröte die Welt aus den Angeln heben wollen.

Zweifelsohne wird hier engagiert und kämpferisch für eine bessere Welt ohne Knechtschaft und Ausbeutung gestritten – doch musikalisch irritierend ist das selten gewesen. Versuche, den revolutionären Gehalt des Liedguts mit neuartigen und den Hörer herausfordernden musikalischen Formen zu verknüpfen, sind in dieser Tradition zumeist ausgeblieben. Was zweifellos die Ursache dafür ist, dass nicht wenig von dem vorliegenden Material, so interessant, historisch bedeutsam oder skurril es auch sein mag, heute wenig zeitgemäß klingt. Dass eine Musik des Protests, die als solche verstanden werden will, immer auch um eine Erschütterung und Erneuerung der musikalischen Formen bemüht sein muss, das hat man in den politischen Organisationen und Parteien der Arbeiterbewegung (und dem, was davon übrig blieb) offenbar nie verstanden.
Am Ende haben wir es auf diesen CDs häufig mit linksromantischen Volksweisen zu tun, in denen ein zuweilen schwer goutierbarer revolutionärer Optimismus, geballte Faust und »Vorwärts«-Geschrei dominieren. Schon bei der Entstehung in ihrer jeweiligen Zeit waren viele der Lieder auf Volkstümlichkeit bedacht, jeder und jede, der oder die sie hörte, sollte sie verstehen, wiedererkennen, mitsingen können. Das ist nicht weiter schlimm. Es ist aber auch der Haken an der Sache.

Doch bei allem, was zumindest einige dieser Lieder so unangenehm und schwer erträglich macht, sollte eines nicht unerwähnt bleiben: Viele von ihnen wurden einst als gefährliche, staatsfeindliche Hetze eingestuft. Jahrzehntelang wurden das Singen und Verbreiten solchen Liedguts bestraft und polizeilich verfolgt – erst im 19. Jahrhundert, später in der Zeit des Nationalsozialismus.

Dass nichts bleibt, wie es war. 150 Jahre Arbeiter- und Freiheitslieder. 4 CD-Boxen mit illustrierten Booklets, Erläuterungen und Texten sämtlicher Lieder (Bear Family Records).
#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal