Wird Schönheit uns retten?

Wladimir Makanin lässt seinen Roman »Benzinkönig« in Tschetschenien spielen und bezieht sich auf Tolstoi

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Dschochar Dudajew, noch als General der Sowjetarmee, 1991 die Tschetschenische Republik Itschkeria ausruft und sich zu ihrem Präsidenten macht, baut der Major der Ingenieurtruppen Alexander Sergejewitsch Schilin in Grosny Häuser. Dann prangt die Losung »Russen nach Hause« an den Wänden, die föderalen Truppen lösen sich auf. Schilin soll ein Lager mit Waffen und Treibstoff bewachen – ein Himmelfahrtskommando in dieser chaotischen Zeit. Doch unerwartet eröffnet sich dem Major eine vielversprechende Perspektive. Dudajew wird sein erster »Kunde«, verlangt Schützenpanzer, Waffen und Patronen und bezahlt sie mit grünen Dollarscheinen.

Schilin erkennt seine Chance und spürt sein marktwirtschaftliches Talent: Während des Ersten Tschetschenienkrieges (1994/96), danach, »als eine Art Frieden gemacht worden war«, und nach dem Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges (1999) avanciert er zum »Benzinkönig«, der Freunde wie Feinde mit Treibstoff beliefert, sofern sie bezahlen können. Auch wenn er den Krieg absurd findet, begreift er, »dass Korruption hundertmal besser ist als das Chaos«, entwickelt »Privatinitiative«, nimmt Geld und Naturalien und baut sich im fernen Russland ein Haus, wie es ihm Dudajew geraten hat.

Schilin ist kein Einzelfall. In Chankala agiert ein ganzes Trio. Stabsmajor Gussarzew, Schilins Freund, verkauft Waffen an die föderalen Tschetschenen, die sie an die Rebellen verhökern. Der tschetschenische Bauleiter Ruslan (auch er baut ein Haus für seine Familie) fragt nicht, ob er den Föderalen, den Rebellen oder den Bergbauern Benzin zukommen lässt. Eine Hand wäscht die andere, das »Business« floriert. Unter den Bedingungen des »absurden Krieges« erweisen sich die »privatwirtschaftlichen« Aktivitäten sogar als ein Ordnung stiftender Faktor. Tausch, Handel und Sklavenarbeit blühen auf. Benzin gegen Geld, Geld gegen tschetschenisches Fladenbrot, eine Kolonne russischer Soldaten, die in der Falle sitzt, gegen eine Kolonne Rebellen, die eine Höhe besetzen will. Mit 200 Dollar werden russische Gefangene freigekauft, mit wesentlich mehr Geld eine russische Journalistin. Schilin greift Versprengte oder Deserteure auf, die ihre »Schuld« in seinem Treibstofflager abarbeiten dürfen, bevor er sie – mit »gesäuberter« Biografie – in ihre Einheiten zurückbringt.

Einer dieser Arbeitssklaven, den Schilin zwar für einen »Spinner« hält, aber auch gern als »Sohn« betrachtet, wird ihm zum Verhängnis. Aliks Kugeln treffen ihn zufällig, just als er mit einer tschetschenischen Kolonne, der der Sprit ausgegangen ist, schnell noch »ein Geschäft abwickelt« ...

Makanin stellt den Tschetschenienkrieg nicht aus der »Schützengrabenperspektive« dar, wie der Kriegsteilnehmer Arkadi Bab-tschenko (»Die Farbe des Krieges«, »Ein guter Ort zum Sterben«), der dem Autor vorwarf, er habe es mit der Detailtreue nicht so genau genommen und eine Fantasy geschrieben. Makanin, der bis 1970 als Mathematiker gearbeitet hat, ist dem Darstellungsprinzip treu geblieben, das er bereits in der Erzählung »Der kaukasische Gefangene« und im Roman »Underground oder Ein Held unserer Zeit« verwendet hat. Er erzählt auf Lücke, variiert die Stimmen und Perspektiven (Major Schilin tritt mal als direkt betroffenes »Ich«, mal als distanzierter Er-Erzähler auf), versetzt die Zeitebenen, verfremdet das realistische Detail. Er verlangt einen aufmerksamen Leser, der erkennt, wie der Protagonist konnotiert ist, Alexander Sergejewitsch mit Puschkin assoziiert, Schilin mit dem gleichnamigen Helden aus Lew Tolstois Erzählung »Der Gefangene im Kaukasus«.

Der Bezug auf die russische Klassik verdeutlicht, dass es Makanin nicht um eine detailgetreue Beschreibung des Kaukasuskonflikts geht. Ihn bewegt die Frage nach dem Zustand Russlands und der geistigen und moralischen Verfassung des Menschen. Während in der Erzählung »Der kaukasische Gefangene« eine Schlüsselstelle die Schönheit der kaukasischen Berglandschaft preist und (auf Dostojewskis »Idiot« anspielend!) die Hoffnung vermittelt, die Welt könnte durch Schönheit »gerettet« werden, sagt am Ende des neuen Romans ein Kamerad zu dem sterbenden Schilin: »Schau dieses Wäldchen an. Diese von den Soldaten bepissten Berge. Schön? Und wie schön. Aber null Sinn?…«

Makanin hat die Matrix des russischen Kriegsromans verändert. Er zeigt die Tragik des Einzelnen, der als Produkt einer kapitalisierten Epoche handelt, Macht über Menschen gewinnt, nichtsdestotrotz in zahlreichen Fällen Gutes tut und entgegen allen Erwartungen durch jemanden, den er mag und schützt, den Tod erleidet.

Wladimir Makanin: Benzinkönig. Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. Luchterhand. 479 S., geb., 22,99 €.

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