Die böse Angst-Falle

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.
nd im Club: Martin Hatzius, Dietmar Dath. Er sagt, was am Kapitalismus schlimmer ist als Elend
» Solange noch irgendjemand elender ist, als sie oder er nach Maßgabe
des gesamtgesellschaftlich bereits existierenden Reichtums sein müsste, solange ist niemand frei, auch nicht die Besitzenden. «

Dietmar Dath
» Solange noch irgendjemand elender ist, als sie oder er nach Maßgabe des gesamtgesellschaftlich bereits existierenden Reichtums sein müsste, solange ist niemand frei, auch nicht die Besitzenden. « Dietmar Dath

Es gibt eine Zögerlichkeit bei diesem Wort. Sattsam von Losungen bekannt, ist es fragwürdig geworden. Sozialismus: Was kann das noch sein? Für Martin Hatzius, geboren 1976 in Berlin-DDR, ist der sozialistische Staat am Ende nur noch autoritär gewesen, wogegen er aufbegehrte. Dietmar Dath, geboren 1970 in Rheinfelden (Baden), war von Kind an auch voller Protest. Aber auf andere Art. In Martin Hatzius' Buch »Alles fragen – nichts fürchten« ist zu erleben, wie zwei Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen ins Vertrauen finden. Im Interview entsteht ein Porträt, so genau, wie es der Befragte womöglich noch nie sah. Eine »intime Sache« nannte es Dietmar Dath am Freitagabend im Haus am Franz-Mehring-Platz, wo dieser neunte Band aus der ND-Interviewreihe Premiere hatte. Der Titel würde nicht nur seine Haltung meinen, sondern auch das Gespräch selbst – bei dem Martin Hatzius keine Angst hatte vor Fragen, die zu brüsken Antworten hätten führen können.

Es war der Abend des Tages, an dem wir uns mit einem neuen Redaktionssystem anzufreunden hatten. Den einen oder anderen hat dabei Besorgnis »von draußen« erreicht. Wie die Neugestaltung dieser Zeitung gemeint sei, die nicht mehr »ND«, sondern »nd« heißen will? Nun, die Furcht, dass etwas Vertrautes verloren gehen könnte, wird sich bald zerstreuen, aber erstmal tat sie sich kund. Die Sehnsucht nach dem Gleichbleibenden, man weiß doch, woher sie kommt: von der flüchtigen Zeit. Aber der vermeintlich feste Boden unter unseren Füßen gehört letztlich immer zu einem schwankenden Schiff. Da kann man sich in die Koje verkriechen, aber besser ist es schon, an Deck mit Neugier ins Weite zu schauen.

Im Saal nd-Leser und jüngere Leute, die mit dieser Zeitung (noch?) nichts verbindet. Auf dem Podium drei Männer, die von vornherein wussten, dass sie nicht in allem übereinstimmen würden, aber sichtbar Lust hatten, miteinander im Gespräch zu sein. Moderator Hans-Dieter Schütt erkennt in Dath eine »faszinierende Ungebrochenheit, auf die Welt zu blicken und durch Erfahrung nicht beschädigt worden zu sein«. Dietmar Dath, als Schriftsteller so produktiv wie selten einer und inzwischen wieder Redakteur bei der FAZ, spricht mit größter Selbstverständlichkeit von einem Sozialismus als Produktionsweise, in der die maximalen Möglichkeiten zur Herstellung des materiellen Reichtums mit maximalen Möglichkeiten für die Menschen verbunden sind. Eine Gesellschaft, in der niemand ins Elend fällt, wünscht sich Martin Hatzius auch und war doch erstaunt, mit welcher Entschiedenheit sein Gesprächspartner dies als Wille bekundet, als Überzeugung, die zur Tat werden soll. Aber was hat ein Schriftsteller als »Einzelkämpfer« denn anderes als das Wort? Inwieweit kann er damit wirksam werden? Und wie kann man als Kommunist – so nennt sich Dath ja im Buch – in der FAZ arbeiten? Darüber ging es im Gespräch hin und her. Ist der Kapitalismus reformierbar? »Ich glaube, in dem Sinne, wie die Aufklärung die Kirche reformiert hat«, sagt Dietmar Dath.

»Der Sozialismus, wie ich ihn mir vorstelle, ist das allgemeine Prinzip der Versicherung: Es passiert mir nichts, wenn ich mich geirrt habe«, so heißt es im Buch. Eine Gesellschaft, die dem Einzelnen vertraut? Liebe als soziales Prinzip? Zu erkennen, wie unter der rationalen, argumentativen Sprache die Emotion, unter dem Scharfsinn die Sehnsucht pulst, gehört zu den Erlebnissen der Lektüre. »Sozialismus statt Angst«, so sagte es Dietmar Dath an diesem Abend. Da summte sich mir Sarastros Arie aus Mozarts »Zauberflöte« durch den Kopf. »In diesen heil'gen Hallen...« Mein Lied, dem ich in einem Schulaufsatz (Lob der Lehrerin) einst »abstrakten Humanismus« vorwarf, denn die Wirklichkeit sollte wichtiger als meine Wünsche sein. Was bleibt vom kommunistischen Ziel, wenn im Klassenkampf der Zweck die Mittel heiligt? Längst stand das Ideal in Opposition zum »real existierenden Sozialismus«, für dessen Scheitern wir uns verantwortlich fühlen. Aber Dietmar Dath blickt von fern auf die Kräftekonstellation im Kalten Krieg und sieht unsere Fehler als Lernmaterial. Vielleicht sollten die Linken wirklich bald aufhören, sich an der Vergangenheit aufzureiben, denkt man beim Lesen, vielleicht ist wirklich langsam Zeit für eine Negation der Negation ...
Dietmar Dath lässt sich an diesem Abend die Lasten nicht ansehen, die er trägt. Offen, ungeschützt, frei, ja heiter teilt er dem Publikum als Gewissheit mit, woran mancher zweifelt: Die Welt ist veränderbar. Stimmt, auch wenn unsereins vielleicht nur winzige Samen ausstreuen kann, ohne zu wissen, ob etwas daraus wächst. Bleiben wir in Bewegung, solange wir lebendig sind. Ob Dietmar Dath die ihm geschenkte nd-Tasse auf seinen FAZ-Schreibtisch stellt?


● Martin Hatzius: Dietmar Dath. Alles fragen – nichts fürchten. Verlag Das Neue Berlin, 222 S., geb., 17,95 €.
● Zu bestellen über nd-Bücher-service, Tel. 030-29781777 oder online im nd-Shop

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