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Kinder von Cighid sind erwachsen geworden

Schreckliche Bilder aus rumänischen Waisenhäusern gingen einst um die Welt. Was ist aus den Kindern von Cighid geworden?

  • Guido Sprügel
  • Lesedauer: 7 Min.
Auf den ersten Blick ist Laszlo Moldovan, 25 Jahre alt, aus dem rumänischen Oradea ein ganz gewöhnlicher junger Mann. Er hört für sein Leben gern Musik und kauft sich von seinem Taschengeld immer wieder neue Kassetten seiner Stars. Manchmal nimmt er auch eigene Musikstücke mit einem Mikrofon auf. Wenn es die Arbeit zulässt, beschäftigt er sich auch mit der Kleinbildkamera, die er von einer Freundin aus Deutschland geschenkt bekommen hat. Er fotografiert vor allem Menschen, um sie immer bei sich zu haben. Laszlo Moldovan ist ein fröhlicher, aufgeschlossener Mensch. Dabei war seine Leben nicht immer fröhlich und unbeschwert. Laszlo ist einer der überlebenden »Insassen« des Kinderheims Cighid, das im Dezember 1989 für die westliche Welt der Inbegriff der rumänischen Art von Euthanasie wurde, der Euthanasie durch die Verhältnisse. Journalisten aus Deutschland, Schweden und England hatten damals im westrumänischen Kreis Bihor das Kinderheim von Cighid entdeckt. Die Fotos, die damals um die Welt gingen, lösten Entsetzen und Protest aus. Sie zeigten halb verhungerte, verlumpte Kinder, die sich selbst überlassen worden waren. Cighid war in Rumänien kein Einzelfall. In jedem Kreis waren in den 80er Jahren ähnliche Heime errichtet worden - im Gefolge der Bevölkerungspolitik Nicolae Ceausescus. Das rumänische Volk sollte von 22 auf 25 Millionen wachsen. Ziel war die Familie mit vier - natürlich gesunden - Kindern. Für die nicht gesunden wurden 41 so genannter Kinderheime geschaffen, in denen die Sterblichkeitsrate zeitweise auf 25 Prozent wuchs. Ärzte teilten die Kinder mit Behinderungen in drei Kategorien ein: Förderbare, Teilförderbare und »Irecuperabili«, nicht Reparierbare. Wer einer der ersten beiden Kategorien zugeteilt wurde, behielt zumindest sein physisches Existenzrecht. »Irecuperabili« wurden in so genannte Isolatoren verfrachtet, nackte Aufbewahrungsräume, in denen Kinder zu Dutzenden dahinvegetierten. »Ich war nie im Isolator, ich war immer brav«, beschreibt Laszlo seine Erinnerungen an Cighid. An vieles kann und will er sich nicht erinnern. In seinen Akten steht, dass er in Salonta geboren wurde. Mit fünf oder sechs Jahren kam er nach Cighid, genau weiß er das aber nicht. Es kann auch später gewesen sein. Im Alter von zehn oder elf hat er sich später in einem Fernsehbeitrag über Cighid gesehen. An die Aufnahmen kann er sich noch sehr genau erinnern: »Als die Deutschen kamen, durfte ich sogar einmal filmen.« Andere Episoden seiner Biografie sind hingegen verschüttet. »Wir waren fast 20 Kinder in einem Saal. Es gab viele solcher Säle«, erzählt Laszlo. Vor allem die Metallbetten sind ihm in Erinnerung geblieben. Laszlo ist eines der Kinder, die Glück gehabt haben. Er konnte laufen. Kinder, die nicht laufen konnten, wurden als Erste in den »Isolator« gesteckt, wo sie die Brei-Nahrung von den Betreuerinnen durch eine Luke geschoben bekamen. »Meine Kleidung habe ich mir immer organisiert«, sagt Laszlo, der früh zum Überlebenskünstler wurde. Er klaute die heimeigene Kleidung von der Leine, zum Glück zählte niemand die Stücke nach. Heute ist das Kinderheim von Cighid ein Vorzeigeobjekt, aufwändig saniert und mit pädagogisch qualifiziertem Personal ausgestattet. »Anfang der 90er Jahre standen sich die westlichen Hilfsorganisationen in Cighid quasi auf den Füßen herum«, berichtet Dr. Michael Wunder von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Die »Rumänienhilfe Alsterdorf« leistet seit 1990 im Kreis Bihor Aufbauarbeit. Zunächst half sie bei der Umgestaltung von Cighid, bald aber zog sie sich zurück, da es an anderen Stellen ebenfalls brannte. So wurde in den folgenden Jahren das Kinderheim von Bratca modernisiert, und in der Stadt Oradea wurden zwei Familienhäuser gekauft. In der »Casa Max« wohnen elf Jugendliche und junge Erwachsene, in der »Casa Hamburg« elf Kinder. Laszlo Moldovan lebt seit Herbst 2001 in der »Casa Max«. Er hat ein eigenes Zimmer und feiert im August seinen 26. Geburtstag. »Den feiere ich mit meinen Freunden aus Cighid«, freut er sich. Neun seiner Hausgenossen kommen von dort. Sie sind jetzt im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. In Ghiorac, einer Stadt in der Nähe von Cighid, hatten sie nach 1989 eine Schule besucht. Vorher existierte keine sonderpädagogische Förderung. Jetzt besuchen die ehemaligen Cighider fast alle die Berufsschule von Oradea. Renata, 1989 erst drei Jahre alt, hat es sogar auf das Lyzeum geschafft. Für sie hatten sich rumänische Pflegeeltern gefunden, die sie zu sich nahmen. Als die Familie ein eigenes Kind bekam, gab sie Renata jedoch in das Kinderheim Cighid zurück. »Ich wohne gerne in der Casa Max. Im Augenblick lerne ich ganz intensiv Englisch«, erzählt sie selbstbewusst. Von den Verletzungen ihrer frühen Kindheit merkt man ihr auf den ersten Blick nichts mehr an. »Wir wissen noch sehr wenig, wie die jungen Erwachsenen ihre Vergangenheit verarbeiten. Zu befürchten ist, dass sich die Erinnerungen irgendwann melden. Vielleicht gerade dann, wenn sich ihre größten Wünsche, beispielsweise nach einer Partnerschaft, erfüllen«, vermutet der Psychologe Dr. Wunder. Laszlo Moldovan träumt von einer Partnerschaft zu einer Frau. Er plant bereits, wie er die Betten stellen muss, damit auch seine Wunschfrau in das 16 Quadratmeter große Zimmer passt. Nach der Berufsschule will er in einem Klempnerbetrieb arbeiten, wie jetzt schon an zwei Tagen in der Woche. Zwar hat er wenig Kontakt zu den anderen Gesellen und Lehrlingen, dafür aber zum Patron, zum Meister. Manchmal bekommt er kleine Geschenke von ihm. »Einmal hat er mir sogar 50000 Lei gegeben«, erzählt Laszlo stolz. Das sind umgerechnet etwa 1,50 Euro. Gemessen an dem dem staatlich garantierten Mindestlohn von 1690000 Lei (56 Euro), den viele Menschen in Rumänien nach wie vor bekommen, ist das schon eine stolze Summe. Laszlo hat sie sofort in eine neue Musikkassette investiert. Die jungen Erwachsenen der Casa Max haben in zweierlei Hinsicht Glück gehabt. Sie haben die furchtbaren Zustände in Cighid überlebt und als »Irecuperabili« eine zweite Chance bekommen. Das ist auch im Rumänien des 21. Jahrhunderts noch nicht selbstverständlich. Zwar werden Menschen nicht mehr bewusst dem Tode ausgeliefert, aber viele ehemalige Heimbewohner, die heute erwachsen sind, leben noch immer unter erbärmlichen Bedingungen. 1999 hatte EU-Kommissar Günther Verheugen gefordert, dass Rumänien - wenn es in die EU aufgenommen werden will - das Problem mit den Kindern in den Griff bekommen müsse. Die Regierung in Bukarest richtete daraufhin schleunigst die Nationale Agentur für den Schutz der Kinderrechte und im gleichen Atemzug ein Inspektorat für Menschen mit Behinderungen ein. Für alle (behinderten) Kinder unter 18 Jahren ist die Kinderrechtsagentur zuständig, die älteren Behinderten fallen unter die Obhut entweder des Behinderteninspektorats oder der Gesundheitsbehörden. Wer welchem Amt nach welchen Kriterien zugeschanzt wird, ist unklar. Cecilia Barbu von der Kinderrechtsagentur in Bukarest beschreibt die Zuständigkeiten so: »Die Institution definiert den Menschen.« Das ist aber nicht immer zum Wohle des Betroffenen. Am Beispiel des westrumänischen Dorfes Bratca wird das deutlich. Dort gab es bis Juli 2000 ein von »terre des hommes« errichtetes neues Kinderheim mit 80 Kindern. Nachdem Verheugen in seinem Brief unter anderem die Verkleinerung der bestehenden Heime gefordert hatte, lösten die rumänischen Behörden das Problem auf ihre Weise: Sie teilten das aus drei Gebäuden bestehende Kinderheim in zwei Bereiche, trennten sie durch einen Maschendrahtzaun voneinander und richteten in einem Bereich eine Psychiatrie ein. Die über 18-jährigen Heim-»Kinder« wurden in eben diese Psychiatrie eingewiesen - egal ob sie geistig behindert oder psychisch krank waren. Aus den Statistiken der Kinderheime sind sie damit entfernt, Verheugens Forderung ist formal erfüllt. Heute vegetieren in Bratca 25 erwachsene Menschen mit geistigen Behinderungen ohne geeignete Betreuung den ganzen Tag vor sich hin. Im Winter drängen sie sich tagsüber in einem 18 Quadratmeter großen Raum, da die Gesundheitspolizei das Betreten der Schlafräume am Tage untersagt hat. Betreut werden die Insassen von Reinigungsfrauen und einem Krankenpfleger. Dr. Wunder sagt, den jungen Menschen geschehe großes Unrecht: »Sie sind geistig behindert und nicht psychisch krank - sie gehören nicht in eine Psychiatrie.« »Wir haben den ganzen Tag nichts gemacht. Die Betreuerinnen haben nur Essen verteilt und geputzt«, erzählt Laszlo aus seinen Vor-89er-Erfahrungen in Cighid. Die Verhältnisse in Bratca 2002 sind durchaus ähnlich.
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