Augen-Blicke

Fotografischer 
Humanismus – 
was ist das? 4. Fotofestival Mannheim_Ludwigshafen_Heidelberg: »Bilder der Menschheit«

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.
Roger Ballen: Tommy Samson and a mask. 2000. Courtesy the artist 
and Gagosian Gallery
Roger Ballen: Tommy Samson and a mask. 2000. Courtesy the artist and Gagosian Gallery

Das Fotofestival in der Metropolregion Rhein-Neckar ist Deutschlands größte Veranstaltung dieser Art. Sieben Ausstellungshäuser in drei Städten beteiligen sich daran, zudem ist ein für jedermann sichtbares Objekt im öffentlichen Raum eingebunden. Nichtsdestotrotz ist dem Anspruch der Kuratorinnen Katerina Gregos und Solvej Helweg Ovesen, »den Menschenbildern unserer Zeit« auf der Spur zu sein, überhaupt nicht gerecht zu werden. Selbst stattliche 1000 Bildwerke - das Medium Fotografie ist hier erweitert um Installationen, Diavorführungen, Videos - von 56 Künstlern aus 32 Ländern können die »Conditio humana zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts« nicht ansatzweise widerspiegeln.

Die Kuratorinnen wissen das. Um zu verstehen, was mit jenem »fotografischen Humanismus« gemeint ist, dem sie sich verschreiben, muss man den Haupttitel der Zusammenschau ins Verhältnis zu seinem Annex setzen. Vollständig lautet das Festivalmotto: »The Eye is a Lonely Hunter: Images of Humankind«. Der Doppelpunkt markiert eine Kluft: Deutlicher kann der zu überwindende Widerspruch zwischem Subjektivität und Universalität gar nicht aufscheinen.

Als »einsamer Jäger« der Wirklichkeit tritt das »Auge« des Fotografen einem Zielobjekt entgegen, das sich mit noch so vielen »Shots« nicht erlegen noch einfangen lässt. Das Festivalkonzept konfrontiert also die Wahr-Nehmung jedes einzelnen Bildschöpfers (und Bildbetrachters) mit der trotzig behaupteten Existenz einer Gattung, die sich ihrer selbst nur durch die Sinne ihrer Individuen gewahr werden kann. Kein Wunder, dass unter all den Werken nicht allzu viele Bilder auszumachen sind, die sich umstandslos der »objektiven« Dokumentarfotografie zuordnen ließen, dafür umso mehr Arbeiten, die das intensiv studierte Vorgefundene ästhetisch überzeichnen.

»Fotografischer Humanismus« - das ist das Bekenntnis zu den dargestellten Menschen und deren Einbettung in eine menschengemachte Umwelt - Bilder unberührter Natur wird man in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg vergeblich suchen. Verbunden ist dieser Fokus mit einer ästhetischen Kritik der Auswirkungen menschlichen Lebens auf menschliches Leben sowie mit der politisch verstandenen Absicht, dem oberflächlichen und deshalb anders unvollständigen Menschenbild der Massenmedien die Collage vieler einzelner, einzigartiger Bilder entgegenzustellen.

Der im Katalog ausgebreitete akademische Überbau wirkt reichlich überproportioniert. Es lohnt sich dennoch, über die Spannseile postmoderner, posthumanistischer, postkolonialer Diskurse zu balancieren. Die Arbeiten entfalten zwar auch ohne diesen post-allerhand, aber eben prä-sinnlichen Hintergrund ihre Wirkung - in den Ausstellungen lässt man die Werke weitgehend für sich sprechen -, doch erst der verschriftlichte Gedanke stiftet den Zusammenhang des augenscheinlich mosaikartig Vielfältigen.

Gregos und Helweg Ovesen erklären ihr Festival zum Gegenentwurf der von Edward Steichen kuratierten Ausstellung »The Family of Man« (1955). Während Steichens Nachkriegsschau aus seinerzeit naheliegenden Gründen das idealistische Ziel verfolgt habe, »universelle humanistische Werte und Perspektiven« aufzuzeigen, scheue ihre Ausstellung »nicht vor negativen Utopien zurück« und schließe »sich nicht der Fiktion einer einzigen glücklichen Familie der Menschheit an«. Man kann den Unterschied auch so formulieren: Steichen zeigte etwas, das er für wünschenswert hielt. Gregos und Helweg Ovesen legen Ursachen solchen Wünschens frei, indem sie zeigen, wie komplex die Spannungen zwischen dem einen Wunsch und den vielen Wirklichkeiten ihre Fallnetze spannen.

Das Auge also, ein einsamer Jäger. Am eindrucksvollsten offenbart sich der Sinn des Titels in einer winzigen Kabinettausstellung, die gar nicht Teil des Festivals ist, sondern Ergänzung. Unter dem Titel »Augen-Blicke« sind in einem Vorraum der Heidelberger Sammlung Prinzhorn bildkünstlerische Zeugnisse von Psychiatrie-Patienten vergangener Zeiten ausgestellt, in denen das gezeichnete Auge als Einfallstor des bedrohlich Übergroßen dargestellt ist. Das Auge, der Jäger, nimmt hier keine Welt mehr ins Visier, die mit anderen zu teilen wäre, stattdessen wendet es sich konsequent nach innen. Es projiziert das sinnlich nicht Fassbare auf die Leinwand der Seele, in die es sich kokelnd frisst wie der durch eine Linse auf den Punkt fixierte Lichtstrahl in brüchiges Papier.

Im eigentlichen Ausstellungsraum, einem ehemaligen Hörsaal der neurologischen Klinik, sind Schwarz-Weiß-Fotografien aus Roger Ballens Serie »Outland« (1987-2000) ausgestellt. Der US-amerikanische Künstler setzt darin weiße Südafrikaner in Szene, die durch das Raster der Gesellschaft gefallen sind. Authentische Protagonisten - zu sehen sind ausgemergelte, zerfurchte, deformierte Körper in schmutzigen Lumpen in menschenunwürdigen Behausungen - arrangiert Ballen in fantastischen Posen. Die diesen Kompositionen innewohnende Drastik impliziert, dass die so Dargestellten längst nicht mehr zur Menschengattung zählen. Die soziale Evolution, kein natürlicher, sondern ein von Menschen zu verantwortender Aussonderungsprozess, hat sie zum unmenschlichen Fristen ihres Daseins in unterweltlichen Nischen verdammt.

Tobias Zielony bestreitet die zweite Einzelausstellung. In der Heidelberger »halle 02« hängen Aufnahmen des Berliner Künstlers vom nächtlichen Leben Jugendlicher in Vorstädten Deutschlands, Polens, Kanadas, der USA, Frankreichs und Italiens. Von seltsamer Ähnlichkeit sind die Orte, an die es die Nachtwesen zieht wie Schnaken ins heiß-gleißende Elektrolicht: Tankstellen, Parkplätze, Geistersiedlungen. Der Schweizer Beat Streuli indes hat im Vorfeld des Festivals zufällige Passanten auf dem Alten Meßplatz in Mannheim fotografiert - beim Einkaufen, Telefonieren, Flanieren, oft einfach beim Passieren. Jetzt prangen die übergroß Porträtierten in multiethnischer Melange auf einer Stellwand desselben Platzes, die an die bunte Werbebande eines Modelabels erinnert. Die Passanten passieren sich selbst.

Die fünf übrigen Ausstellungen sind Themenkomplexen gewidmet: »Affekt und Wirkung von Politik« (Reiss-Engelhorn Museum Mannheim), »Rolle und Ritual« (Kunsthalle Mannheim), »Das alltägliche Leben« (Kunstverein Ludwigshafen), »Ökologische Kreisläufe« (Wilhelm-Hack-Museum Ludwigshafen), »Lebenskreisläufe« (Kunst-verein Heidelberg).

Muss man ins Neckartal fahren, um sich ein Bild von der Menschheit zu machen? Nicht unbedingt. Der Katalog - auch wenn er nur einen Teil der Arbeiten nachbildet, Videos und Installationen gar nicht adäquat erfassen kann - vermittelt das Anliegen der Zusammenschau und das Wesen einzelner Werke hinreichend. Man kann es ja so drehen: Fast jede Fotoausstellung zwischen Emden und Garmisch-Partenkirchen lässt sich unschwer als Erweiterung des Festivals in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg auffassen. »Bilder der Menschheit« entstehen immerfort und überall.

4. Fotofestival Mannheim_Ludwigs-hafen_Heidelberg.
The Eye is a Lonely Hunter: Images of Humankind; noch bis zum 6. November; Katalog 20 Euro. Im Netz: www.fotofestival.info

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