Michael Hametner: Raus aus der Rolle!

Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011

  • Lesedauer: 2 Min.
Kleist gab in seinem kurzen Leben eine Rolle nach der anderen ab: fühlte sich fehlbesetzt als Soldat, Mathematik-Student, ministerieller Volontär und in mindestens fünf weiteren Rollen, darunter auch der des Verlobten. Oft genug auch als Schriftsteller. Kleist gehörte nach Maßgabe der neuen Lebensvorschriften, die auf Prosperität und Effizienz aus waren, der ersten Generation der Zerrissenen an.

In Christa Wolfs Erzählung »Kein Ort: Nirgends« offenbart Kleist sein Zerrissensein: »Denn kein Mensch kann auf die Dauer mit der Erkenntnis leben, daß, so stark wie sein Widerstand gegen das Übel der Welt, der Trieb in ihm ist, sich diesem Übel unbedingt zu unterwerfen. Er wollte nicht diese Rolle spielen und zugleich sein Gegenspieler sein.«

Schluss mit dem Theater, raus aus der Rolle! Damit der Redner ohne Rücksicht spricht und in dem Augenblick, da er den Mund aufmacht, noch nicht weiß, was er sagen will. Kleist ruft den französischen Politiker Mirabeau als Zeugen auf, der am 23. Juni 1789 seinen berühmten Donnerkeil gefunden hat. Was ist ein Donnerkeil? In diesem Fall Mirabeaus Rede. Der verbat sich des Zeremonienmeisters höfliche Übermittlung des königlichen Befehls an die versammelten Stände: Geht auseinander, Leute! – Mirabeau setzte seine Antwort vorsichtig an und endete mit: »So sagen Sie Ihrem König, daß wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der Bajonette verlassen werden.« Das wollte Mirabeau vermutlich nie sagen, wurde er doch – wie später herauskam – vom König selbst mehr als gut bezahlt. Beim allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden wuchs ein Günstling des Königs über sich selbst hinaus. Er hatte im Moment der Rede seinen Rollentext – erregt wie er war – einfach zerrissen! ... Ach, lieber Kleist, so einfach geht es nicht. Wir sprechen unseren Rollentext doch gern. Unser Ich zerfällt in ein halbes Dutzend Rollen, es können auch mehr sein ...

(Aus: die horen 243, 3. Quartal 2011.
Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven)

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal