Auf den Spuren der Aufklärer

Die Volksuniversitäten in Frankreich stehen jedermann offen – und erfreuen sich großer Beliebtheit

  • Susanne Götze
  • Lesedauer: 6 Min.
Ich denke, also bin ich: Seit der Aufklärung lebt die Idee vom gebildeten, autonomen Staatsbürger. Was eine Utopie geblieben ist, haben sich die Volksuniversitäten in Frankreich auf die Fahnen geschrieben und sie haben großen Zulauf. Seit zehn Jahren gibt es nun schon die »Université populaire« in fast 100 französischen Städten.

Ein Mittwochabend in der Banlieue nördlich von Paris. Zwischen hässlichen 1970er-Jahre-Wohntürmen quetschen sich moderne Designerschlafburgen, die auch in Dortmund oder Essen stehen könnten. Mitten im modernen Grau lugen noch ein paar weiß angestrichene Altbauten hervor, die daran erinnern, dass hier früher ein dörflich-gemütlicher Vorort von Paris stand. An der Station Gabriel Péri rät eine Gruppe wartender Jugendlicher zur Vorsicht. Um diese Uhrzeit solle man in der Gegend besser zügig laufen. Es ist schon fast dunkel, 20 Uhr durch. Das Seminar der »Université populaire des Hauts-de-Seine« findet in einem abgelegenen Sozialzentrum statt, dem »Espace Grésillons«. Kaum ein echter Pariser verirrt sich hierher. Dennoch ist das Seminar über Robespierre voll besetzt. Rund 30 Leute lauschen gespannt dem Vortrag von Anne Jollet, die sonst an der Universität Poitiers Geschichte unterrichtet.


Im Mai 1968 wurde die Pariser Universität Sorbonne für kurze Zeit zur für jedermann zugänglichen Volksuniversität (»Université populaire«) erklärt. Vor zehn Jahren ist die Idee in Frankreich erneut aufgegriffen worden: Im ganzen Land gibt es Vorträge - offen und kostenlos für jeden.


Die Mehrzahl der Seminarteilnehmer ist in die Jahre gekommen. Sie schreiben fleißig mit, runzeln die Stirn, nicken. Viele sind schon 1968 für ein neues Bildungssystem auf die Straße gegangen. Leider hätten junge Leute heutzutage kaum Zeit, die Angebote der Volksunis zu nutzen, bedauert Dozentin Jollet, eine agile Mittdreißigerin. Jollet ist nicht nur bei den Volksunis aktiv, sondern auch im Kreis der kritischen Historiker, die die »Revue d'histoire critique« herausbringen.

Nach ihrem Vortrag wird selbstverständlich debattiert. An den großen sozialen Fragen aus Robespierres Zeiten habe sich bis heute nichts geändert. Der freie Markt und das Horten von Getreide haben im revolutionären Frankreich zur Hungersnot geführt - das sei mit der Situation im heutigen Ostafrika und den Nahrungsmittelspekulanten an der Börse zu vergleichen, wird geschimpft. Schon Robespierre habe erkannt, dass Freiheit schön und gut sei, jedoch die Freiheit des Marktes und des Eigentums immer den Stärkeren nützen - so wie den neuen »Herren der Welt«, den Ratingagenturen. Die können nun sogar Staaten auf- und abwerten, beklagt eine ältere Dame.

Bildung umsonst und für alle

Vergleichen könnte man die Idee der »Université populaire« mit den deutschen Alternativ-Unis. Diese sind allerdings in den meisten Fällen von Studenten für Studenten gemacht. Die französischen Universitäten »für alle« werden dagegen von professionellen Lehrkräften betrieben. Zudem ist das Netzwerk flächendeckend, kostenlos und offen für jeden - ganz gleich, welchen Alters und mit welchen Vorkenntnissen die Teilnehmer sich anmelden.

Dennoch schaffe man es nicht, alle für die Volksuni zu begeistern, meint Philippe Corcuff, Gründer der »Université populaire Lyon« und Attac-Aktivist. Viele hätten immer noch Berührungsängste mit dem Begriff »Universität«. Zudem sei die Volksuni auch nicht dafür gedacht, die durch das Schulsystem entstandenen Bildungslücken zu schließen, erläutert Corcuff. Doch nicht umsonst trügen die Universitäten das Attribut »populaire«. Das Merkmal der Popularität setzt auf das Volk, die »citoyen« (Bürger) als eigentlichen Souverän des Staates - in französisch-republikanischer Tradition. Das bedeute auch, die Spannung zwischen »professionellem Intellektuellen« und »normalem Bürger« aufzuheben.

Das Programm der französischen Volksunis ist bunt: Lyon hat in diesem Semester den Schwerpunkt »Macht und Protest«. Bei Paris beschäftigt man sich außer mit Robespierre mit der Frage des Humanismus im 21. Jahrhundert, mit Migration und Volksmusik, diskutiert über die Revolutionen in Nordafrika und liest gemeinsam Rousseau. In Lyon habe man vor einiger Zeit sogar die Wachstumskritiker der Gruppe »Decroissance« ein Seminar machen lassen.

Was einst als kostenlose Vermittlung universitären Wissens begann, sei mit der Zeit offener geworden, schildert Corcuff, der neben seinem Volksuni-Engagement an der Universität Lyon lehrt und in der antikapitalistischen Partei NPA aktiv ist. Mittlerweile würden ebenfalls Themen behandelt, die an normalen Hochschulen oft zu kurz kommen. Auch bei der Organisation der Kurse würden die »upistes« experimentieren, wie die Macher der Volksunis umgangssprachlich genannt werden. Statt des im französischen Hochschulsystem gängigen Frontalunterrichts setzt man auf Diskussion und Austausch.

Das bildungspolitische Anliegen der »upistes« sei grundsätzlich links orientiert, meint der engagierte Politikwissenschaftler: »Sicher sind es vor allem linke Lehrkräfte, die sich bereit erklären, in Volksunis zu unterrichten, dennoch heißen wir auch konservativ-offene Professoren willkommen, die von uns aufgeworfene Fragen aus ihrer Sicht erläutern«, so Corcuff.

Die Volksunis wurden meist von linken und radikal-linken oder auch anarchistischen Intellektuellen gegründet. Das hat mit ihrer Geschichte zu tun, denn die »Universités populaires« stehen in der aufklärerischen Tradition: Mensch zu sein durch Vernunft und selbstständiges Denken - und Bildung als Mittel, das emanzipierte Individuum zu stärken, das nach Wissenszuwachs strebt und seine intellektuelle Entwicklung durch ständige Auseinandersetzung mit diesem Wissen erreicht. Radikalisiert wurde die Aufklärung durch ihre Politisierung im 19. Jahrhundert. Dabei geht es nunmehr um autonomes Wissen, das Recht auf Bildung und Chancengleichheit. Den Vertretern der radikalen Aufklärung ist nicht nur die Gründung von Volksschulen - auch in Deutschland - zu verdanken, sondern auch die der ersten volksnahen Universitäten in Frankreich Ende des 19. Jahrhunderts.

Eine hundertjährige Tradition

Im Zuge der Affaire Dreyfus und Zolas »Ich klage an!« war 1899 die erste Volksuni in Paris gegründet worden. Die Uni im damals heruntergekommenen Viertel Faubourg Saint Antoine sollte ein Forum für republikanische Intellektuelle und Arbeiter schaffen. Anfang des 20. Jahrhunderts verschwanden die Volksunis dann wieder. Übrig blieben Seminare und Weiterbildungsangebote, die vor allem von politischen Kreisen ins Leben gerufen wurden. In den 1960er Jahren kam dann wieder die Idee auf, eine »sozialistische Universität« zu gründen. Es blieb aber bei Vortragszyklen von linken Intellektuellen, die vor allem den Vertretern der Neuen Linken nahe standen, und bei einigen Veranstaltungen um den Mai 1968.

2002 gründete dann Michel Onfray die erste Volksuniversität neueren Datums. In dem »Manifest für Volksuniversitäten« von 2004 schreibt Onfray, dass es für eine »lebendige Philosophie« einer »philosophischen Gemeinschaft« bedarf, damit nicht jeder allein in seinem Kämmerchen philosophiere.

Durch Onfrays Initiative hat sich mittlerweile ein ansehnliches Netzwerk an Volksuniversitäten in Frankreich gegründet. Seit 2006 gibt es sogar eine »Volksuniversität des Geschmacks«, die sich mit Themen rund um die Landwirtschaft und die Küche beschäftigt: Denn auch in Frankreich ist zu Hause zu kochen nicht mehr selbstverständlich. Das Erbe der französischen Küche soll so weitergegeben und wiederbelebt werden.

Unterstützt werden die »Université populaire« vor allem von kommunalen Einrichtungen, die entweder Räume oder ein wenig Geld für Mieten stellen. Die Lehrkräfte sind Freiwillige - allerdings gab es auch schon mal eine Art Aufwandsentschädigung, erinnert sich die Dozentin Jollet von der Volksuni bei Paris. Darauf komme es jedoch nicht an.

Volksuniversitäten gibt es überall in Frankreich - außer in Paris. Eine politische Entscheidung sei das nicht, meint Jollet. Eher sei in Paris ohnehin zu viel los. Dennoch ist es bezeichnend, dass gerade im goldenen Zentrum der »grande nation« keine Volksuni zu finden ist.

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