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»Ich hätte das Leben abgelehnt«

Heute wird die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger 90

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
»Ich hätte das Leben abgelehnt«

Auf die Frage, wer oder was sie hätte sein mögen: »Niemand und nichts.« Auf die Frage, was sie sich für die Zukunft wünsche: »Dass meine Zukunft nicht mehr zu lange dauert.« Sie hat es immer als Zumutung empfunden, dass der Mensch nicht gefragt werde, ob er auf die Welt kommen möchte. »Ich hätte es bestimmt abgelehnt.«

Aber wo die Welt ihren Ernst einbüßt, bietet sich deren Rätselhaftigkeit, deren Sinnlosigkeit auch als etwas Großartiges dar. Um es genau auszudrücken, zitiert Ilse Aichinger gern den Aphoristiker E. M. Cioran: »Das Leben ist die Hölle, angefüllt mit Augenblicken, von denen jeder ein Wunder ist.«

Ilse Aichinger schrieb Hörspiele, Szenen Erzählungen, Betrachtungen, Gedichte (»Eliza, Eliza«, »Verschenkter Rat«, »Schlechte Wörter«). Schreiben sei: sterben lernen. Die Dichterin arbeitet in diesem Sinne seit Jahrzehnten im Dienste eines Schweigens, in dem alles Unnütze, alles Nichtige abfällt. Rationen für die Not hält man klein. Die Not ist das Leben, die Ration ist das einzelne Wort. Sprache folgt keiner realistischen Wahrnehmung, die Wörter bilden in immer radikalerer Verknappung, im ernsten Spiel miteinander, eine eigene ästhetische Welt, eine Welt, die sich jedem Einvernehmen mit dem Gang der Dinge skepsissicher verweigert. »Ich kann getröstet nicht leben. Jeden Tag die Verzweiflung neu erwerben, aus der Mut kommt.«

Flirrend verschlossen ist diese Poesie, sie wirkt, als hätten sich die Worte von selbst ihre Beziehung zueinander, ihre Tonart, ihren Rhythmus gesucht. Als habe sich demnach die Dichterin darin erfüllt, gar nicht anwesend gewesen zu sein. Die Wörter in die Lautlosigkeit zurückführen, aus dem Geschwätz befreien - größte Aufgabe in einem Zeitalter, in dem alles erzählt und niemand angehört wird.

Ilse Aichinger wird am 1. November 1921 in Wien geboren, kurz vor der Zwillingsschwester Helga - Töchter eines Lehrers und einer Ärztin, die sich bald scheiden lassen. Nach den Nürnberger Rassengesetzen gilt die Mutter als volljüdisch, verliert ihre Arbeit. Der Vater kommt in eine Nervenklinik: Er, ein Bibliomane, kaufte eine Jean-Paul-Ausgabe nach der anderen. Die Großmutter und die Geschwister der Mutter werden deportiert und ermordet. Ilse Aichinger überlebt mit ihrer Mutter in Wien den Krieg. Das Medizinstudium bricht sie ab, schreibt den Roman »Die größere Hoffnung«, lernt in der Gruppe 47 den Lyriker Günter Eich kennen, heiratet ihn. Die Kinder beider: Mirjam und Clemens - Clemens setzt seinem Leben 1998 ein Ende, Günter Eich stirbt 1972. Ilse Aichingers Schwester lebt seit der Emigration in London.

In der Zeit, da die Schriftstellerin in die Gruppe 47 kam, stellte sich auch der Jude Paul Celan in dieser Dichter-Gruppe vor und wurde angepöbelt: »Der liest ja wie Goebbels.« In solcher Zeit konnte auch Aichingers erster (und letzter) Roman kein Erfolg werden: zu viel Wahrheit über jüdische Angst unter deutschen Nazis, zu subjektiv, zu überrealistisch. Günter Eich wird später formulieren, was auch Überzeugung und Antrieb der Aichinger bleibt: »verbündet sein mit allen, die sich nicht einordnen lassen, die Ketzer in Religion und Politik, die Unweisen, die Kämpfer auf verlorenem Posten, die Narren, die Untüchtigen, die glücklosen Träumer, die Schwärmer, die Störenfriede«. Kurz: alle, die das Elend der Welt nicht vergessen können, bevorzugt in solchen Momenten, da sie glücklich sind.

»Film und Verhängnis - Blitzlichter auf ein Leben« heißen ihre höchst lebendigen Essays zum Kino, bestes literarisches Feuilleton, in dem Betrachtung fremder Kunstwerke und Reflexion eigener Existenz zu faszinierender Ergänzung finden. Was Aichinger als Grundlage ihrer Dichtungen sieht, macht auch in diesem Buch den Unterschied zu dem, was landläufige Filmkritik ist. Aichinger sagt: »Schreiben geht nicht über das Bewusstsein.« Wo das Bewusstsein beginnt, beginnt der Mensch - aber der Dichter ist in Gefahr.

Dass sie das Kino liebt, erscheint logisch: Ihre Texte sind Lobpreisungen der Flüchtigkeit, die da einladend vorüberflimmert - und zugleich schlägt Kino, als Konserve, einem Einverständnis mit dem Tod trotzdem ein kleines Schnippchen. »Film und Verhängnis« - ein Erinnerungsbuch, dessen Titel zwei Situationen bündelt: Als der Zweite Weltkrieg beginnt, ist Ilse Aichinger gerade im Kino. Als dieser Krieg aufhört, ist es eine Kinokassiererin in der Wiener Josefstadt, die Nachrichten von Verwandten bringt, Nachrichten von Deportation und Ermordung. Film und Verhängnis.

Und dennoch sind diese Anflüge von Autobiografischem, gebunden an filmische Erlebnisse, weit aufgeräumter, frei atmender als die erste selbstreflexive Notizen-Sammlung, »Kleist, Moos, Fasane«. Ein hermetischer Titel, der das alte Wohnquartier zwischen Kleist-, Moos- und Fasangasse und damit eine Kindheit aufruft, die unter nazistischem Dunkel keine Chance hatte.

Dem Reiz des Vorübergehenden, das aus ihr eine beinahe fanatische Kinogängerin machte - ihm verfiel die Aichinger auch höchst vergnügt und inständig in ihrem Wiener Caféhaus, wo sie für die Wiener Zeitung »Standard« jahrelang Kolumnen schrieb (erst unter dem Titel »Schattenspiel«, dann unter der Überschrift »Unglaubwürdige Reisen«), Blättchen auf Speisekarten, Quittungen, Servietten, Zeitungsrändern. Im Assoziationsstrom der wenigen Zeilen wieder das ganze Leben; poetische Farbigkeit auf dunklem Grund.

Der Drang der Texte in die Verdichtung, die Sehnsucht der Spracharbeiterin nach Stille - es folgt jener Not in den Wiener Nazijahren, stündlich auf Verschwinden eingestellt sein zu müssen »... ach, diese Zeit im Verborgenen, die Angst, entdeckt und abtransportiert zu werden, die unendliche Unsicherheit eines jeden Tages: Kommen Sie? Kommen sie? Heute?«

Es wird in ihrem Werk das entschiedenste, traurigste, härteste, dabei sehnsuchtsvollste Wort: »Fort. Man kann nichts daran steigern oder abschwächen: Fort ist fort.« Bittere Bestandsaufnahme des Vergangenen, erlösungshoffende Bitte an die Zukunft.


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Die Katze erwartet auch hier
im Gras ihren Vogel.
Die Erdbeben hielten
wir immer
für eine zufallende Tür.
Die Kinder werden grau.

*

Ein kranker Schnee
und die in Tretbädern
leicht löslichen Patienten, -
hebt mich auf
für die vorletzte Sprechstunde,
wenn die endgültigen Winde
die langen Gedichte hersagen.

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