Kunst, Maß, Anspruch

Andreas Reimann zum 65.

  • Otto Werner Förster
  • Lesedauer: 3 Min.
Kunst, Maß, Anspruch

Auch diesen sommer gönnt, ihr gewaltigen / in unserm dienst, zu übendem liede uns / und lockrer rede: dies verbände / so uns, wie mann und frau sich paaren ...« - Da leuchtet Friedrich Hölderlins »An die Parzen« herüber. Und so war sie auch gedacht, Andreas Reimanns alkäische Ode »An alle« in seinem ersten gedruckten Gedichtband »Die Weisheit des Fleischs« von 1975. Die »Gewaltigen« werden die feine Ironie als Unverschämtheit verstanden haben; die spielerisch streng-klassische Form wohl kaum einer von ihnen. Das aber macht u.a. Reimann als Dichter aus, ein Lyriker mit Maß und Handwerk, Sprachgefühl und Sprachmacht, mit einer sehr diesseitigen, lebensbejahenden, kritisch-wachen Trotz-Alledem-Haltung. Geschult an antiken und klassischen Versmaßen, die er spielerisch anwendet, weil er sie beherrscht, und somit eine eigene Sicht auf das Alltägliche und die »Welt« vermitteln kann: Es ergeben sich erstaunlich scharfsinnige, weil wunderbar bildhafte Einsichten und Ansichten.

Max Walter Schulz, Direktor des Leipziger Literaturinstituts, hatte das, wenn auch spät, erkannt und Andreas Reimanns ersten Gedichtband, gegen den Widerstand des MfS, mit ermöglicht. Nachdem der Dichter zwei ganze Jahre wegen »staatsfeindlicher Hetze« in Cottbus eingesessen hatte. Die »Hetze« bestand in lautem Nachdenken und nachdenklichen Fragen. Das können die scheinbar »Gewaltigen« bis heute nicht ertragen. Als »Widerstandskämpfer«, zu denen sich zahllose Leute inzwischen hochstilisiert haben, empfindet er sich dennoch nicht.

Zuvor schon hatte sich Reimann eingemischt in die Kunst- und also Gesellschaftsdiskussion. Als er nämlich mit seinem substanziellen Essay »Die neuen Leiden der jungen Lyrik« gegen die verkommende Versebastelei aller möglichen Schreiber, gegen das wahllose Zerhacken belangloser Prosa etwa, im Irrglauben, es seien »freie Rhythmen», ein »gekränktes Geschrei unter Jungpoeten und Germanisten« provozierte. Die Diskussion ist noch immer nicht ausgestanden. Im Gegenteil: Sie ist notwendiger denn je, denn es geht um Kunstverständnis. Das Maß hat sich verschoben, die Sicht darauf und das Wissen darum, was Kunst ausmacht und also auch Literatur, sind fast verloren gegangen. Da kann man Reimanns gelegentlichem unwilligem Grummeln nur beipflichten. Zumal dieser Dichter von Format in der Literaturgeschichtsschreibung der DDR möglichst nicht vorkommen sollte. Vielleicht ist seine - über Jahrhunderte tradierte - Sicht auf Kunst und Maß und Anspruch auch der Grund, weshalb er in den westlichen Bundesländern bis heute nicht wahrgenommen wird, vielleicht auch, weil ihm Moden und («Kunst«-)Markt und gnadenloser Kommerz zuwider sind.

Andreas Reimann ist einer der wenigen in Leipzig geboren deutschen Dichter. Paul Fleming, Lessing, Klopstock, Goethe, Schiller usw. sind nur durchgezogen. Klopstock allerdings hat hier seine Übertragung antiker Versmaße auf deutsche Spracheigentümlichkeiten begonnen, in der Folge die freien Rhythmen eingeführt - und damit viel Elend in die deutsche Literatur gebracht: durch die peinlichen Missverständnisse sprach-loser Nachahmer ...

Zu Reimanns 65. Geburtstag erscheint in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke der erste Band einer zunächst auf elf Bände konzipierten Werkausgabe. Die wird ihm hoffentlich zu dem Ansehen innerhalb der deutschsprachigen Literatur verhelfen, das ihm zusteht.

Andreas Reimann: Die Weisheit des Fleischs. Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Werke in Einzelausgaben. 102 S., geb., 18 €.

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