Pop-Musik & Holocaust

»Cheyenne – This must be the Place« von Paolo Sorrentino

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 4 Min.

Sean Penn als Cheyenne: Er ist ein Superlativ. Er gibt die merkwürdig-skurrilste Figur der Filmgeschichte, gleich nach Murnaus Nosferatu. Nein, so darf man eigentlich nicht aussehen. Die üppige schwarze Gothic-Mähne meist hochtoupiert, eine Strähne fast immer im weiß geschminkten Gesicht, um mit deren Wegpusten einer Gemütsbewegung erkennbaren Ausdruck zu geben, ansonsten die Miene unverwandt starr, die Augen schwarzrandig, der Mund knallrot, dazu passend der Nagellack. Cheyenne ist sehr um sein Outfit bemüht, in dem er seit Jahrzehnten herumschlurft . Wie wattiert der Gang, mit Lendenknick. Verschlissene Bandscheiben, sagt er, machen, dass er beim Pelota-Spiel im leeren Swimmingpool gegen seine Frau immer verliert. Es könnte genauso gut sein, dass Drogen und Alkohol ihre Spuren hinterlassen haben. Auch die weinerliche Fistelstimme, seltsam unbetont, und die Marotte eines dümmlichen Kicherns (die Synchronstimme schafft das leider nicht) hat Cheyenne sich wohl auf diesem Wege erworben. Oder ist das alles tieftraurige Masche? Er tut, als sei er Kind geblieben, doch ist er es auf eine beschränkte Art, die Kinder beleidigen dürfte. Am allermeisten aber drückt ihm eine Last auf die Seele. Mehr als eine.

Mit seiner Band »Cheyenne and the Fellows« erspielte er sich einst Ruhm und Reichtum - mit Letzterem lebt er noch immer äußerst komfortabel, Ersteren wehrt er ab. Denn als er vor zwanzig Jahren als Rocker depressiven jungen Leuten die Lieder seiner Depression vorsang, geschah ein Unglück: Zwei seiner Fans brachten sich um. Das wurde sein Trauma.

Jetzt, er ist schon fünfzig, pflegt er vor allem seine Langeweile, kinderlos, in einer schlossartigen Villa in Irland, die patente Ehefrau (Frances McDormand) arbeitet bei der Feuerwehr. Mal gibt er Plattheiten von sich, mal kluge philosophische Sprüche. Das Haus verlässt er nie ohne einen Einkaufswagen (später wird er den Erfinder des Rollkoffers treffen - eine der spannendsten Szenen, und wie raffiniert allein diese Verbindung gezogen ist, zeigt die Meisterschaft des Regisseurs). Als wäre auch seine Langeweile die »Schwelle zu großen Taten« (Walter Benjamin), führt den Grufti eines Tages der Tod seines Vaters nach New York. 30 Jahre hatte er ihn nicht gesehen, ungeliebt hatte er sich immer gefühlt. Und nun eine Enthüllung und des Vaters, eines Holocaust-Überlebenden, Vermächtnis: Er möge den KZ-Aufseher, der den Vater als Häftling in Auschwitz gedemütigt hat, finden.

Hier beginnt, was Paolo Sorrentino, der 2008 für »Il Divo« in Cannes den Jury-Preis erhielt, vor allem erzählen wollte: wie untergetauchte Nazi-Verbrecher Jahrzehnte nach ihren Untaten jetzt leben. Das einfallssprudelnde Psychogramm des abgewrackten Rockstars ist ihm Vehikel. Es hört sich nach absurdem Theater an, zumal weitere, überdies schwer zu deutende Handlungsstränge in die lange »Einführung« hineinfaserten. Der »eigentliche« Film also ist überraschenderweise eine Art Roadmovie, in dem weiterhin Skurrilität, Komik, Poesie eine unvergleichliche Melange ergeben. Eine Hintertür vielleicht, um junge Leute heute zu erreichen. Denn es kommt hart, wenn auch beiläufig: Mal sieht man irrsinnig schöne Landschaftsaufnahmen, fern aller Klischees (Kamera: Luca Bigazzi). Aber mit gleicher optischer Gewalt werden Aufnahmen ausgemergelter und massakrierter Menschen im KZ gezeigt. Cheyenne sucht, als er die Spur zum Peiniger seines Vaters aufgenommen hat, einen Waffenhändler auf. Der preist die aus weiter Entfernung treffende Pistole an, die Cheyenne sich ausgesucht hat: »Ungestraft zu töten, ist etwas sehr Seltenes, ein ungeahnter Perspektivwechsel im Leben eines Menschen.« Ein weiterer Satz (er bereitet die Klimax vor): »Wenn uns gestattet wird, ein Monster zu sein, haben wir nur noch dieses Bedürfnis, ein Monster zu sein.«

Das Monster? Der verlorene Sohn hat den Mann, den zu verfolgen des Vaters Lebenssinn gewesen war, am Ende aufgespürt. Ein blinder Greis, der Cheyenne erzählt, was im KZ vorgefallen war. Es sind ergreifende Bekenntnisse - ein Blick auf die Täter-Seite, wie es sie so wohl noch nie im Kino gab. Cheyenne ist ungerührt - er hat das Wissen von Ungeheuerlichkeiten aus den Tagebüchern seines Vaters - und schießt - Fotos, mit seiner Kamera, vom einstigen KZ-Schergen. Schuld und Sühne, das sich erst jetzt erschließende Thema des Films, ist hier in ein Bild gefasst, das von bestechender Ästhetik ist, aber inhaltlicher Fragwürdigkeit: Der Alte sitzt nicht mehr in seinem Versteck in einer Eiswüste. Er ist ausgesetzt, irrt umher, ist nackt - ein schwer erträglicher Anblick: Der Mann sieht aus wie einst seine Opfer.

»This must be the Place«, der zweite Teil des Filmtitels, lautet nach dem Song von David Byrne, dem Frontmann der »Talking Heads«, der selbst einen grandiosen Gastauftritt hat. Das Lied, in dem es heißt, »home is where I wanna be«, begleitet die ganze Zeit Cheyenne auf seiner Selbstfindungstour. Er wird langsam erwachsen. Die Szene, da er dann doch eine Zigarette raucht - Rauchen war das einzige Laster, das er nicht angenommen hatte, wie er sagt -, zeigt es (fast überdeutlich) an. Es ist ein Durchatmen.

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