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Der neue alte Mensch

Andrea Breth inszenierte am Düsseldorfer Schauspielhaus »Marija« von Isaak Babel

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Letzte Szene: größte Szene – Janina Sachau (l.) und Mareike Hein
Letzte Szene: größte Szene – Janina Sachau (l.) und Mareike Hein

Das Ende jagt noch immer durch den Sinn. Wühlt. Dies Ende, eine ganz kurze letzte Szene, reißt den Abend, reißt die gesamten zwei Stunden an sich. So wie die Schale der Nuss durch Goethe in den Ruf kam, die Welt zu fassen, so packt diese Szene eine gesamte Epoche, ja erfasst wohl ebenfalls: alle Welt aller Zeiten. Es dauert nicht mehr als einige Minuten. Alles Große geschieht ja schnell, so wie eine Explosion und ein Blitz ihre Arbeit tun im Tempo eines Wimpernschlags. Die lang andauernden Folgen gleichen dann Beinamputierten auf Erdumrundung. Man kann ihren Weg verfolgen, Jahrhundert um Jahrhundert: Kriechspur, Blutspur ...

Ein Haus wird renoviert, die russische Revolution ist noch jung, sie gibt Mittellosen Obdach. Ein Arbeiter wirft schimpfend sein erwachtes ständisches Selbstbewusstsein an die leeren geweißten Wände. Dass er, als neuer Herr der Zeiten, sich überhaupt herablasse, Fußböden zu reinigen! Dann unterweist er mit komischst pädagogischer Pose die neue Mieterin, eine angstvoll weinende Hochschwangere, in der Mühelosigkeit des Kinderkriegens - alles nur eine Frage von Technik und innerer Einstellung. Freude, Zuversicht sind jetzt Staatsräson! Vergatterung zum Optimismus! Die Schwangere weint nur heftiger. Natur ist stärker als Ideologie, obwohl Ideologie - dies erzählt Isaak Babels Stück - bereits die weit größeren Schmerzen zufügt.

Draußen plötzlich ein Soldatenchor. Mitreißend, emporhebend. Anschwellender Weltsiegsgesang. Wenn Russen singen, hört alles auf und hin. Eine junge Putzfrau kommt ins Zimmer, steht ergriffen am Fenster und wird alsbald in den Marschtritt derer da draußen einfallen, wird die hellen Zimmerfluchten durcheilen, als sei es der Rote Platz, wird heiter aufstampfen in wechselnden Parade- und Stechschritten, dazu Militärgruß, als säße ihr eine Generalsmütze auf dem Kopf, oder als sei sie ein paradierender Soldat, ein Weg vorbei an Lenin persönlich. Heiter, mit hymnischem Gemüt. Ein wenig Parodie, viel Pathos. In diesem kleinen Wirbelwind feiern sich Revolution und Sozialismus, feiert sich die neue bessere Welt.

Aber vorn an der Rampe sitzt das schwangere Mädchen, die Erwartende, Schmutzige, Abgerissene mit der so ganz anderen, treibenden, schweren Hoffnung im Leib. Im Schwung der tanzenden Genossin hat das Leben schon gewonnen, in den Tränen der Schmerzensreichen erscheint es wie ein beklagenswertes Wagnis, das man vielleicht gar nicht hätte eingehen sollen.

Der Vorhang senkt sich.

Das war die Szene. Das Weihevolle und das Weinen. Schwung und Schrei. Der große kollektive Entwurf und das bevorstehende Geworfensein eines kleinen Menschen - in ein Elend hinein, das kein Gesang mildern kann. In der militanten Euphorie der einen jungen Frau lebt die ganze Zuversicht in die neue Ära, sie weiß noch nichts von den Millionen Toten, die das kosten wird. Im Bibbern der anderen jungen Frau steigert sich die kreatürliche Furcht vor Krankenhaus und Geburt zum Gleichnis für den Schreckensweg Leben. Der Mensch kommt nicht in wenigen Minuten zur Welt, sein ganzes Dasein braucht sich damit auf. Er kommt fortwährend zur Welt, es ist eine große Mühe - wird er zu kurz kommen, kommt er an, kommt er weit, kommt er zu sich selbst, kommt er nach Hause, kommt er zu Wort, kommt er zur Ruhe, kommt er zu Geld und Recht, kommt er zur Besinnung, darf er sterben, oder kommt er um? Das große Fragen der Ungewissheit in diesem Weinen, aber im Tanz-Marsch das große Lustfressen an Gewissheit: Masse ist Macht.

Eine so ergreifende Szene als Höhepunkt so vieler Szenen. »Marija« ist ein Mosaik, kein Drama. Die Revolution siegte, der russisch-polnische Krieg steht bevor, das Leben ist aufgerissen bis zum schrundigen Grund. Der Mund, der erhabene Gedanken sagen will, hat nichts zu fressen; die Solidarität ist selber eine Bettlerin; zerschossene Krüppel zweifeln, dass die Politik der Bolschewiki Hand und Fuß habe; Schieber schieben sich nach vorn; Dreck macht reinen Tisch mit Sittlichkeit; Lüste marodieren durch verwahrlosende Gemüter. Hüllen fallen, Schüsse fallen, Menschen fallen, der Wahnsinn steigt die Hirnwände hoch.

Am Düsseldorfer Schauspielhaus inszenierte Andrea Breth (Bühne: Raimund Voigt) das Stück. Es entstand in den dreißiger Jahren; Isaak Babel (»Die Reiterarmee«) wurde 1939 verhaftet, ein Opfer Stalins, als offizielles Todesdatum gilt der März 1941. Marija, Tochter eines ehemaligen Zaren-Generals, ging in die Armee der Bolschewiki, in die Politabteilung. Sie taucht immer wieder in den Erzählungen derer auf, die sie kennen, bewundern, misstrauisch beäugen. Sie verbindet die ehemaligen mit den künftigen Zeiten. Frau, Fanal, Fantasiegebilde.

Babel, der Revolution sehr zugetan, zeigt doch mit euphorischer Nüchternheit seine Abscheu, seine Zweifel; im Tagebuch von 1920 hatte er geschrieben: »Wir zerstören, wir ziehen weiter wie ein Wirbelsturm, von allen gehasst, das Leben stiebt auseinander. Wie wir die Freiheit bringen - schrecklich.« 1970 hatte Adolf Dresen das Stück am Deutschen Theater Berlin inszeniert - leben durfte die Aufführung nur, weil Intendant Hanns Anselm Perten durchpeitschte, quasi als aufrichtendes Gegenstück auch Helmut Baierls propagandistischen »Langen Weg zu Lenin« zu installieren.

Babel reflektiert nicht, er meißelt den von Überflüssigem gereinigten Satz, der »nur« erzählt. Sätze miteinander, Sätze gegeneinander. Garde und Gauner, Gedemütigte und Gezeichnete: Träume, Klagen, Berichte, Gespräche. Palaver in Panik. Melancholie und Metzelei, Suff und Tripper, Tanz und Tod. Breth inszenierte die Szenenfolge ohne Auffälligkeitsehrgeiz, quasi naturalistisch. Ein Theaterfilm im Schnellschnitt. In detailbetonten Interieurs, in historisierend erfühlten Kostümen, mit 22 Schauspielern. Es geht nicht um psychologische Weichzeichnung, sondern darum, wie alle ein Härtemuster bilden, daraus dann ein Zeitgefühl düstert. Ein Blick in Salon, privates Warenlager, Notquartier, Tscheka-Verhörhölle.

Zwischen diesen Momentaufnahmen Wolfgang Mitterers Musik. Musik? Ein aufschreckender Sound eher, frontmetallisch, als träfen sich Gewehre, Hufe, Bomben, Schreie, fahrende Züge zum Klangfestival der Dissonanzen. Hier tritt die Menschengattung aus zivilen Befestigungen; was sich oben Geschichte nennt, ist unten Not und Notzucht, Verteuerung und Vertierung. Die Welt muss sich ändern, immer. Wehe dem, der's als Gewaltakt erleben muss. Babels Schau-Spiel als Blick zurück - nach vorn? In diesem Fragezeichen liegt alle Energie der niederdrückenden, lastenden Aufführung. Wer von den beiden Frauen der Schluss-Szene ist mit Blindheit geschlagen? Die Jubelnde, blind für den bitteren Dauerkrieg, in den der Soldatengesang führen wird, blind für Manipulationskräfte eines politischen Rausches? Oder die Jammernde, blind für die Liebe zum unbedingt lohnenden, sich doch immer durchbeißenden Leben?

Zwei in einem Raum, die Eine lacht ins Publikum, die Andere weint ins Publikum - sie scheinen einander nicht zu bemerken, die Avantgardistin, die das Bild vom neuen Menschen im hüpfenden Herzen hat, und die werdende Mutter, die einen neuen Menschen unterm Herzen trägt. Unauflösbarer kann nichts enden. Das war so, das ist so. Das wühlt.

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