Protest mit Postleitzahl

Die Occupy-Camps überwintern auf Sparflamme oder sind geräumt, aber es wird weiter demonstriert

  • Hans-Gerd Öfinger
  • Lesedauer: 3 Min.
Empörung und Besetzung lauten die Stichworte, unter denen seit Monaten weltweit Menschen auf Straßen und Plätze gehen. Auch wenn die Camps inzwischen weniger Menschen anziehen oder ganz geräumt wurden, gehen die Proteste weiter: Dieses Wochenende ruft die Occupy-Bewegung erneut zu eimem Aktionstag auf.

Auch wenn die Temperaturen derzeit als für die Jahreszeit zu hoch gelten mögen, ist für die Occupy-Aktivisten, die seit fast vier Monaten in Frankfurt am Main vor der Europäischen Zentralbank (EZB) ausharren, in diesen Wochen vor allem eines angesagt: überwintern. Längst vorbei sind die milden Nächte, in denen die Feuertonnen am Willy Brandt-Platz heimelige Wärme und flackerndes Licht spendeten und einen Mittelpunkt für Campbewohner und Gäste bildeten. Jetzt sind die Zelte feucht und die Nächte lang. Vor wenigen Tagen riss ein Sturm eine Schneise mitten durch das Camp, zerstörte ein großes Tipi-Zelt und ein Materiallager. Vor Ort ist die Gruppe auf vielleicht 80 Männer und Frauen geschrumpft, die trotz der Widrigkeiten weitermachen wollen. Viele verkriechen sich auch bei Tag in ihrem warmen Schlafsack.

In jedem Fall ist viel Motivation und eine gute Konstitution vonnöten. Die scheint der freiberufliche Ingenieur und Familienvater Jürgen Harter mitzubringen, der geduldig Auskunft gibt. Der gebürtige Schwabe und Wahl-Hesse gehört zu den Älteren im Camp. Er ist seit dem 17. Oktober dabei und hat neben den alle bewegenden gesellschaftlichen Fragen auch ganz praktische Dinge fest im Blick. Er weiß, dass Holzpaletten als Fundament für die Zelte und Stege durch das matschige Camp ebenso wichtig sind wie der drahtlose Internetanschluss, den ein Kioskbesitzer auf der anderen Straßenseite teilt. Das Camp hat inzwischen sogar eine Postadresse: Postleitzahl 60311.

In Berlin hat das Camp seine Adresse gerade verloren. Am Dienstag rückte die Polizei im Regierungsviertel an. Die verbliebenen 15 Bewohner räumten daraufhin ihre Zelte. An Aufgeben denkt Harter in Frankfurt nicht. »Wir sind gekommen um zu bleiben, bis sich in Wirtschaft und Finanzwelt spürbar etwas ändert«, sagt er und meint damit eine deutliche Abkehr vom profitorientierten Handeln und Hinwendung zur sozialen Verantwortung. Spätestens im April werden viele aus ihren warmen Winterquartieren kommen und neue Zelte aufschlagen, ist er überzeugt. Ein Umzug des Frankfurter Camps in eine feste Behausung, wie sie zeitweilig im Gespräch war, kommt für ihn nicht in Frage: »Zur Identität von Occupy gehören die Zelte vor der EZB.«

Mit der Ausarbeitung eines detaillierteren Programms tun sich die Camp-Aktivisten, die unterschiedlichste Erfahrungen und Ansätze mitbringen, allerdings immer noch schwer. Auf ihrer Internetseite ist zu lesen: »Die Ziele, die hier mal standen, waren von Einzelpersonen aufgelistet und nie von Occupy Frankfurt abgestimmt. Diese Seite wird überarbeitet.« Nachzuwirken scheinen auch interne Konflikte um eine obskure »Zeitgeist«-Bewegung und eigenmächtige Medieninterviews.

Für Harter haben solche Fragen wenig Belang. Er freut sich über den Zuspruch und Sachspenden aus der Bevölkerung, Besuche von Schulklassen und von Bankangestellten nach ihren »After Work Parties«. Selbst der Privatbankier Friedrich von Metzler habe ein halbe Stunde lang ernsthaft mit Camp-Aktivisten diskutiert. Auch Polizisten und Vertreter des Ordnungsamtes ließen Sympathien erkennen, berichtet Harter.

Wie es in Berlin weitergeht, ist offen. Die Suche nach einem anderen Ort im Zentrum läuft. Am Sonnabend stehen aber auf jeden Fall erstmal wieder Demonstrationen an, in der Hauptstadt, in der Finanzmetropole am Main, in zahlreichen deutschen Städten. Drei Monate nach dem globalen Aktionstag am 15. Oktober, an dem überall auf der Welt Tausende Menschen auf die Straße gingen, hat die Occupy-Bewegung erneut zu einem weltweiten Aktionstag für echte Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Alternativen zum kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzsystem aufgerufen. Auch Attac unterstützt die Mobilisierung.

Ein Wochenende später soll ein Vernetzungstreffen mit anderen bundesdeutschen Occupy-Gruppen stattfinden. An vielen Orten gibt es derzeit Versuche, mobilisierungsfähige, auf Dauer angelegte Netzwerke und Bündnisse aufzubauen.

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