Mehr Wirtschaftswachstum durch Haareschneiden

OECD-Studie: Arme sind stärker von der Krise betroffen als die Mittelschicht / Wettbewerb soll zu sozialer Gleichheit führen

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.
Einkommen von Empfängern niedriger Löhne sind stärker gesunken als die anderer Einkommensgruppen.

Wie man in Zeiten der Krise den wachsenden Einkommensunterschieden entgegenwirken, ein »stärkeres Wachstum fördern« und der »sozialen Ungleichheit in den Gesellschaften« entgegenwirken kann, so Antonie Kerwien von der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), seien die leitenden Fragen der im März erscheinenden Studie »Going for Growth« gewesen, die gestern in Berlin vorgestellt wurde.

Das eine oder andere Ergebnis dieser Untersuchung ist nicht überraschend. So gebe es etwa heute in allen Ländern der OECD »mehr Ungleichheit als in den letzten zehn Jahren«, stellen Rüdiger Ahrend und Isabell Koske fest, leitende Ökonomen bei der Organisation. »Die Arbeitseinkommen von Empfängern niedriger Einkommen sind im Vergleich zu anderen Gruppen gesunken«, sagt Koske. Deutschland sei »eines der ungleichsten Länder« in Europa. Insbesondere die Finanzkrise habe zu einem »Anstieg der Armutsrate« geführt. Insbesondere Frauen, alte und junge Menschen seien betroffen. Die Empfehlungen der Experten, um zu mehr »Verteilungsgerechtigkeit« zu kommen, sind ebenfalls die seit Jahren erprobten Rezepte. Soziale Ungleichheit soll mit einer »wettbewerbsfreundlichen Regulierung von Produktmärkten« bekämpft werden. Konzepte, »wie hohe Mindestlöhne oder strenger Kündigungsschutz, schwächen zwar Einkommensungleichheit kurzfristig ab, können aber mit einem Verlust an Beschäftigung und Bruttoinlandsprodukt einhergehen«. In der Finanzkrise, so ein weiteres Ergebnis der Studie, sei in jenen Ländern, in denen ein hoher Mindestlohn existierte, »die Jugendarbeitslosigkeit sprunghaft angestiegen«. Auf die Frage, ob man das nun so verstehen müsse, dass die Jugendarbeitslosigkeit sinke, wenn die Gewerkschaften schwächer würden, antwortet Ahrend, OECD-Ökonom für Fragen internationaler Kapitalströme: »Das würde ich so nicht in der Zeitung stehen haben wollen.«

Nach einem »makroökonomischen Schock« wie der Krise, erklärt er, sei es »langfristig nicht gut für das Wachstum«, wenn »sozialen Schutz gewährende Institutionen«, wie sie in den Staaten Nordeuropas noch existieren, zu stark seien. Gemeint ist: Wo es noch Gewerkschaften, Mindestlöhne, Kündigungsschutz und Arbeitslosengeld gibt, gebe es auch ein stagnierendes Wirtschaftswachstum. Vielversprechender sei es, »reallokationsfördernde« bzw. »wettbewerbsfreundliche« Institutionen zu fördern. Auch Koske geht die Liberalisierung des Arbeitsmarkts nicht weit genug. Weiter sinkende Löhne werden dabei offenbar in Kauf genommen: »Deutschland hat hier Nachholbedarf.« In skandinavischen Ländern seien die Sozialleistungen »gekoppelt an eine aktive Arbeitsmarktpolitik, an Aktivierungsstrategien, was letztlich auch durch die Hartz-IV-Regelungen versucht wurde«. Koskes Credo lautet: »Besser, die Leute sind im Niedriglohnbereich, als wenn sie in der Arbeitslosigkeit sind und Transferleistungen beziehen.«

Grundsätzlich setzen die OECD-Experten auf Deregulierung, Wettbewerb und »Bürokratieabbau«: »Warum muss jemand Meister sein, um einen Friseurladen aufzumachen?«

Die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre, etwa die Einführung von mehr Kurzarbeit und der »Hartz-IV«-Reformen, seien zu befürworten. Auch eine »höhere Spreizung im Einkommensbereich« sei gut. Wichtiger als der Verdienst sei es für viele, Arbeit zu haben. »Wenn die Leute einen Arbeitsplatz haben, fühlen sie sich im Allgemeinen besser.« Das »Well-Being« (dt. Wohlfühlen) sei entscheidend. »Wie sagt man nochmal auf Deutsch? Wohlfahrt?« »Wohlstand«, ruft ihm jemand zu.

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