Elendiges Erwachsenwerden

Der lang erwartete dritte Roman von Jeffrey Eugenides ist ein schönes, aber kein ganz großes Buch

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Nachhall, den seine ersten Romane »Die Selbstmord-Schwestern« und »Middlesex« auslösten, haben die Vorfreude auf Jeffrey Eugenides' dritten Roman noch größer gemacht. Nun ist er da, der Neue des 51-jährigen US-Amerikaners mit griechischen Wurzeln. »Die Liebeshandlung« ist ein Campus-Roman, der nicht nur an der Brown University in Rhode Island spielt. Doch der titelgebende Marriage Plot, das lange in »besseren Kreisen« inszenierte Ritual der Eheanbahnung, bei dem es wichtiger war, Geld zu Geld als Liebe zu Liebe zu bringen, diese Balz aus Romanen von Jane Austen oder Henry James ist zwar das Thema der Abschlussarbeit für eine der Hauptfiguren. Dreh- und Angelpunkt für den Roman ist es nicht. Nicht einmal die Liebesgeschichte im Dreieck der Absolventen Madeleine, Leonard und Mitchell ist es.

Eigentliches Thema sind Irrungen und Wirrungen auf der Suche nach einem zukunftssicheren Ausgang aus den Räumen von Kindheit und Jugend auf das Parkett der Erwachsenen. Dass dieses Examen nicht einfacher geworden ist, darf als anerkannt gelten.

Der Autor besitzt in Deutschland eine große Gemeinde. Das zeigte seine Berlin-Lesung (mit Ulrich Matthes als deutscher Stimme) aus dem neuen Roman im Berliner Verlag. Auch dort war der anhaltende Zauber zu spüren, in den der Autor seine Leser mit »Selbstmord-Schwestern« und »Middlesex« eingesponnen hatte. Eugenides, dem man die griechischen Vorfahren ansieht und der es versteht, einen schwierigen Stoff leicht, ernsthaft und voller Sinn für Situationskomik zu schreiben, beweist sich auch im neuen Buch als verführerischer Erzähler. Das macht wichtige Verfasser zu großen Autoren. Madeleine äußert bei einer Diskussion über Literatur, dass sie mit dem Geniebegriff kein Problem habe. »Sie wünschte sich, dass ein Buch sie dorthin mitnahm, wohin sie selbst nicht gelangen konnte.«

Der Roman handelt Anfang der jüngsten 80er Jahre. Die Mauer steht, der Kalte Krieg tobt noch. Im Osten bestimmen Breshnew, Ceausescu und Honecker, den Westen bedienen Reagan und Thatcher, während an Amerikas Ostküste Madeleine, Leonard und Mitchell ihrem Abschlusstag an der Universität entgegensehen. Sie blicken alles andere als zuversichtlich auf die Zeit nach dem Campus.

Mitchell gelangt auf seiner Suche nach Orientierung zu aufrichtigem Interesse an der Religion, nach Indien zur Armenpflege bei Mutter Teresa und zur frühen Einsicht, dass er trotz langjähriger Anbetung Madeleine nur als gute Freundin, nicht aber als Liebespartnerin wird haben können.

Leonard ist ein Charismatiker, der Maddys Blut in Wallung, sie aber auch zur Erkenntnis bringt, »was extreme Einsamkeit im Diskurs der Liebe bedeutete«. Er ist intellektuell brillant, oft unvergleichlich komisch und noch öfter in düsteren Stimmungen. Diese machen ein Gutteil seiner Anziehungskraft aus. Unter Kommilitonen bekommt es ihm, »ihn seine Schwächen, seine Bedenken gegenüber dem amerikanischen Erfolgsrezept aufzählen zu hören. So viele am College hatten hochgezüchtete Ambitionen und steroidale Egos, waren klug, aber konkurrenzorientiert, fleißig, aber rücksichtslos, glänzend, aber stumpf, sodass jeder sich gezwungen fühlte, Optimismus auszustrahlen - wir haben's drauf, und das Leben brummt -, obwohl alle im Stillen wussten, dass ihnen ganz anders zumute war. Sie zweifelten an sich und hatten Angst vor der Zukunft.«

Bei Leonoard gibt es dafür akuten Grund: Seine Beziehung zu Madeleine wird von einer Krankheit überschattet, die Betroffene ihren Lebtag nicht verlässt. Er ist manisch-depressiv, pendelt zwischen Extremen, wobei die Ausschläge des Himmel-hoch-jauch-zend immer schwächer, die des zu-Tode-betrübt immer schwerer sind.

Madeleine erlebt mit Leonard höchstes Glück, vor allem jedoch Ausnahmezustand. Liebe und Leben geraten aus den Fugen, ohne dass irgendetwas sicherer wird. Der Not gehorchend, ziehen beide nach einer Hochzeit, die das Elend des Erwachsenwerdens anfacht, ins Haus von Madeleines Eltern: »Es war, als hätte Leonard seine heiße, muffige Einzimmerwohnung mitgebracht, und jeder, der bei ihm sein wollte, müsste sich ebenfalls in diesen heißen seelischen Raum quetschen. Es war, als müsste Madeleine, um Leonard ganz zu lieben, in denselben dunklen Wald wandern, in dem er sich verirrt hatte.«

Der Autor lässt seinen Schlüsselpersonen durchweg die Gerechtigkeit widerfahren, eine Eigenschaft, der sich schon die Protagonisten der Vorgänger-Romane erwärmen konnten. Eugenides hat feinen Humor, Rothschen Nerv für Lakonie und (Hermann) Kantschen Sinn für Ironie. Über seine Ahnenheimat Anfang der 80er Jahre: »Ständig gab es Demonstrationen, gegen die Regierung, gegen die Einmischung der CIA, gegen den Kapitalismus, gegen die NATO und für die Rückgabe der Marmorskulpturen des Parthenons. Griechenland, die Wiege der Demokratie, vor Kraft strotzend durch Redefreiheit. Jeder in den Kaffeehäusern hatte eine sachkundige Meinung, und keiner brachte etwas zuwege.«

Dass sein dritter Roman ein schöner, wenn auch kein ganz großer Wurf geworden ist, erklärt sich mit einigen Schwachstellen: Der Marriage Plot irritiert mehr als er erhellt. Auch bei einem Buch, das nicht auf Tagesaktualität zu zielen braucht, wirkt der viktorianische Plot Ende 2011 etwas irrelevant. Die ewige Geschichte von Erwachsenwerden, Liebe und Scheitern, das immer währende Drama um die Tolstoische Frage, worin das menschliche Drama besteht, machen diese Gefahr wett. Aber sie sind eine Einschränkung. Die Hauptpersonen schließlich leiden an gewisser Figurenblässe: Mitchells opake Religiosität erscheint in Entstehung wie Ausübung eher überraschend als nachvollziehbar. Leonards Persönlichkeitsstörung ist besser zu begreifen als Leonards Persönlichkeit. Und Madeleine wird fast ganz auf ihre Fähigkeit reduziert, auf Personen, Probleme und Peinlichkeiten zu reagieren.

Jeffrey Eugenides: Die Liebeshandlung. Roman. Aus dem Engl. von Uli Aumüller und Grete Osterwald. Rowohlt. 624 S., geb., 26,95 €.

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