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Blitzableiter, Sündenböcke

ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 4 Min.
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.
Dr. Wolfgang Schmidbauer lebt und arbeitet als Psychotherapeut in München.

Im Februar 2012 wurde ich von einem Bildungszentrum in der Steiermark gebeten, auf einer »Zeitschritte-Tagung« über ein Thema vorzutragen, das mich in den letzten Jahren beschäftigt: Die Veränderungen des Gefühlslebens unter dem Druck der Globalisierung und einer kaum mehr durchschaubaren Geldwirtschaft. In den Vorgesprächen stellte sich heraus, dass die Sache mit den Zeitschritten der Versuch war, ein ganz spezielles und sehr katholisches Publikum sozusagen in die Moderne einzuladen. Diese Zeitschritte-Tagung hieß früher Landfrauentag und war der spirituellen Führung dieser Gruppe gewidmet.

Nun gibt es auch in der Steiermark immer weniger landwirtschaftliche Betriebe. Die Kinder aus den Dörfern zieht es in die Städte, sie erlernen Berufe. Das Bildungszentrum hat inzwischen sehr viel mehr im Angebot als die hauswirtschaftlichen Kurse von einst. »Früher war das streng getrennt, es gab eine Tagung für die Landmänner und eine für die Landfrauen. Heute kommen auch Männer und junge Frauen aus ganz anderen Berufen. Aber die meisten sind doch ältere Frauen «, sagte der Geistliche, der mich eingeladen hatte. »Als ich Ihr Buch ›Das kalte Herz‹ sah, habe ich gedacht, Sie sind der Richtige. Ich arbeite auch gerne mit Märchen.«

Der Leiter von St. Martin ist ein Hofrat. Ich wusste vorher nicht, dass es in Österreich noch Hofräte gibt, wo doch der (Kaiser)Hof schon lange verschwunden ist. Aber ich wollte schön zeitig und gemütlich nach Graz fahren, um mit dem Hof- rat noch zu Abend zu essen und ihn zu befragen, wie man Hofrat wird. Mein Vortrag sollte den ganzen Samstagvormittag füllen.

Am Bahnhof große Enttäuschung - Zug hat eine Stunde Verspätung, kein Anschluss in Salzburg nach Graz. Wieder nach Hause, Spätzug gebucht, der nachts ankommt. Bei klirrender Kälte im Taxi zu der völlig verlassenen Tagungsburg, wo irgendwo ein Umschlag mit Informationen sein sollte. Ich sah mich schon in der Kälte vor verschlossenen Toren stehen wie weiland Kaiser Heinrich in Canossa. Aber alles funktionierte und war gut geheizt. Ich fand sogar ein Nachtessen in einem Kühlschrank. Es hätte für vier hungrige Männer gereicht. »Jause für Dr. Wolfgang Schmidbauer« war auf ein Porzellanschild gemalt.

Wer öfter in Tagungshäusern unterwegs ist, der weiß auch, dass in den katholischen das Essen reichlich und eher konservativ ist, in den evangelischen entweder karg oder ökologisch, manchmal auch beides. Am nächsten Morgen holten wir die Besprechung beim Frühstück nach. Ich wusste inzwischen einiges über die Geschichte der Volksbildung in der Steiermark, denn auf dem Zimmer hatte ich einen Ordner gefunden, in dem über die wechselvollen Schicksale der Burg berichtet wurde, in der ich die Nacht verbracht hatte.

Nach kurzer Andacht mit Gesang und einführenden Worten versuchte ich, rund achtzig Landfrauen und drei Landmännern möglichst anschaulich zu schildern, wie die Metapher vom kalten Herzen mit kapitalistischen Zwängen zusammenhängt und sich aktuell in Erscheinungen wie Burn- out, Mobbing, Depressionen und Ängsten niederschlägt. Als ich spürte, dass mich nicht mehr viele Redeminuten von einer beginnenden Heiserkeit trennten, eröffnete ich die Diskussion.

Ursprünglich hatte ich anregen wollen, sie in kleineren Gruppen durchzuführen. Aber der Geistliche hatte mit strahlendem Lächeln gesagt: »Wenn wir Sie schon da haben, möchten wir auch möglichst viel von Ihnen bekommen!« Ich verkniff mir zu viele Gedanken über die orale Dynamik im Katholizismus und beschloss, mit diesem Publikum zu sprechen wie mit den Bauersfrauen, die ich schon als Kind kennen und lieben gelernt habe - allen voran meine Großmutter Hedwig, aber auch Margherita und Modestina, ihre Erbinnen in der Toskana, wo ich ja eine Art zweiter Kindheit auf dem Land erlebte.

Ich hoffe, der Vormittag hat den Frauen in Graz ebenso viel Freude gemacht wie mir. In der Diskussion hat mich ein Beitrag besonders bewegt. Die Mutter eines jungen Unternehmers, der den Brennstoffhandel seines Vaters übernommen hatte, sprach über die emotionale Belastung in diesem Gewerbe. Seit Heizöl immer teurer wird und viele Menschen ihre Tankfüllung kaum mehr bezahlen können, ist der Druck auf die Händler enorm gestiegen. »Von hundert Worten, die mein Sohn hört, sind 97 Beschimpfungen, ihr Halsabschneider, ihr Wucherer, ihr nehmt’s vom Lebendigen«, sagte die Frau. »Mein Sohn hält das nicht mehr aus. Er plagt sich, dass die Lkw funktionieren und die Ladungen pünktlich eintreffen. Die Gewinnspanne ist eh klein. Die Zahlungsmoral ist ganz schlecht. Er will jetzt aufhören.«

Das ist vielleicht die tückischste Seite im Kapitalismus: Weil die Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik ungreifbar sind, fallen die Opfer übereinander her und schwächen sich so gegenseitig. Um das kalte Herz herum entsteht ein Schild aus Feuer und Rauch, der die Einsicht in die nötigen Veränderungen der Strukturen behindert.

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