Wer ist Ich?

»Ruhm« von Isabel Kleefeld nach Daniel Kehlmanns Roman

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Rosalie entdeckt die Kamera. Die hängt, von ihr aus gesehen, rechts oben. Aber nicht an der hinteren Wand, sondern vorn. An der Leinwand, von uns aus gesehen. Rosalie geht darauf zu, streckt den Hals, fixiert die Linse, spricht. Da fährt einem der Schreck in die Glieder. Im Polster des Kinosessels fühlt man sich unerwartet ertappt - wie der Hotelier, der am Bildschirm seine Gäste überwacht. Man geht ja nicht in einen Film, um darin mitzuspielen.

Die Kamera hängt in einem Zürcher Sterbezimmer. Die krebskranke, grauhaarige, hagere Rosalie ist aus Deutschland angereist, um ihren Todescocktail zu trinken. Sterbehilfe. Eine starke Frau, die ihr trauriges Schicksal selbst in die Hände nimmt? Von wegen. Rosalie ist eine Figur in einer Erzählung des Schriftstellers Leo Richter, der wiederum eine Figur ist, die Daniel Kehlmann sich für seinen Roman »Ruhm« ausgedacht hat. Und jetzt spricht die Filmfigur Rosalie (leibhaftig: die ungeheuer souveräne Senta Berger) zu uns? Nur, wer soll das jetzt wieder sein, »wir«?

Daniel Kehlmanns »Ruhm« ist unter den Romanen ein Sonderling. Den neun darin aufeinanderfolgenden Erzählungen ist gemein, dass diverse Mobiltelefone in ihnen eine Rolle spielen, ansonsten stehen sie scheinbar für sich. Kein Rahmen verbindet sie. Stattdessen schieben sich die einzelnen Rahmen nach und nach ineinander. Figuren tauchen in Geschichten auf, in die sie gar nicht gehören. Oder doch? Allmählich werden Fäden sichtbar, die diesen mit jener, die mit dem verbinden. Ein Marionettentheater im virtuellen Raum, bei dem nicht klar ist, wer Spieler, wer Puppe ist. Ein »Roman ohne Hauptfigur«, wie es einmal heißt. In Isabel Kleefelds Kino-Adaption, die sechs der neun Geschichten ineinander verwebt, wird obendrein der Autor selbst zur Figur: Kehlmann tritt in einer Szene als Laudator für Leo Richter auf. Der Schauspieler Kehlmann hält eine schwurbelnde Rede, die aus wohlklingenden, aber sinnlosen Versatzstücken und Zitaten aus Kritiken zu Büchern des Schriftstellers Kehlmann montiert ist. Zwischen dem Bild, das sich andere von einem machen, und der Selbstwahrnehmung sirrt ein Magnetfeld, in dem Identität und Maskerade ununterscheidbar werden. Ein Funknetz, in dem man sich verfangen kann wie der mausgraue Angestellte Joachim Ebling (Justus von Dohnányi), mit dem alles beginnt. Er ist einer, den eigentlich niemand anruft. Doch kaum hat er sein erstes Handy in Betrieb genommen, klingelt es ununterbrochen. Die Nummer ist doppelt vergeben worden. Man hält ihn für einen, der er nicht ist. Zu dem er aber, von Anruf zu Anruf, immer sehnlicher werden will.

In einer Filmszene steht der Schauspieler Ralf Tanner (Heino Ferch) vorm verschlossenen Tor seiner eigenen Villa, in die unterdessen ein Doppelgänger eingezogen ist, und klingelt. An der Gegensprechanlage meldet sich Hausdiener Ludwig (Matthias Brandt) und fragt, wer dort sei. Tanner: Na ich. Ludwig: Wer ist Ich?

Erst da wird dem Leinwand-Star klar, dass »Ich« nicht der Mann auf den Filmplakaten ist, nicht die Skandalnudel aus den Boulevard-Zeitungen und Internet-Portalen, nicht der Macho, der sich vor Begehrlichkeiten kaum retten kann, nicht der Celebrity-Monarch, der seinen Ludwig eben noch herumdirigierte. Indem er aus diesem Leben herausfällt, fällt er in ein anderes hinein, das vielleicht das eigentliche ist. Inkognito hat er eine Frau kennengelernt, die ihn selbst für ein Tanner-Double hält - und sich doch in ihn verliebt.

Identitäts-, Realitätsverlust als Preis des Ruhms: Der zweite Star neben Tanner ist Leo Richter (Stefan Kurt), der Schriftsteller. Ein Jet-Setter, der, außer in Flugzeugen, nur in seinen Geschichten lebt, die er aus allem spinnt, was ihm aus dem Sichtfeld heraus in den Sinn kommt. Insbesondere aus den Erlebnissen seiner Freundin Elisabeth (unschuldig, aufrichtig, als einzige Figur ganz und gar keine Karikatur: Julia Koschitz), die für »Ärzte ohne Grenzen« arbeitet und in Richters Erzählungen als Lisa Gaspard auftritt. Im Film fungiert diese eigentliche Heldenfigur als Scharnier zwischen echtem und erfundenem Leben, zwischen objektiver Wahrheit und subjektiver Wahrnehmung.

Als zwei befreundete Medizinerkollegen in die Hände von Terroristen geraten, will Elisabeth das um jeden Preis vor Leo geheimhalten. Ihr Schicksal ist zu ernst, um nur wieder das Material für eine Erzählung bereitzustellen. In die Schicksale seiner Figuren vermag der Schriftsteller einzugreifen, in jenes von Elisabeths todesbedrohten Kollegen nicht. Der Autor als Gott der Fiktionen: Immerhin Rosalie, der alten Frau im Sterbezimmer, kann er ein neues Leben schenken. Ihn, ihren Schöpfer, mahnt sie durchs Kamera-Auge um Erbarmen.

Im Zuschauerraum aber sitzen wir und fühlen uns angesprochen. Jemandem eine lebenswerte Existenz zu schenken, muss man kein Künstler sein. Solche Existenz beginnt, wo der Blick aufeinander nicht mehr zugestellt ist von Eigensinn, Karrierismus, Schwindelei. Sie endet, sagt Leo Richter ganz zum Schluss bei der Preisverleihung, und blickt dabei seine Elisabeth an, »sobald du den Blick von mir nimmst«.

So schön der Film diese zentrale Botschaft herausstellt, so wenig gelingt es ihm leider, den subtilen Charme der Romanvorlage insgesamt in bewegte Bilder zu übertragen. Statt des Schwebezustands, den Kehlmann so trefflich heraufzubeschwören versteht, neigt Isabel Kleefeld zuweilen zu einer klischeehaften Überzeichnung von Figuren, Lokalitäten und Situationen. Zwar ist »Ruhm« durchaus auch ein komisches Buch, im Gegensatz zur Verfilmung aber gibt es keinen seiner Teile der Lächerlichkeit preis.

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