Keine Kostenerstattung für unheilbar Kranke

Umstrittenes Urteil des Bundessozialgerichts zu Potenzmitteln

  • Lesedauer: 4 Min.

Ist die Steigerung der Lebensqualität für schwerkranke oder behinderte Menschen eine Kassenaufgabe? Nach Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) ist es das nicht. Auch behinderte Männer haben - wie nicht behinderte - keinen Anspruch auf die Kostenerstattung für Potenzmittel durch ihre gesetzliche Krankenkasse.

Leistungsausschluss kein Verstoß gegen Grundgesetz

Der vom Gesetzgeber gewollte Leistungsausschluss für Mittel wie »Viagra« oder »Cialis« diskriminiere Behinderte nicht, wie das Bundessozialgericht in einem im März verkündeten Urteil entschied (Az. B 1 KR 10/11). Ein Verstoß gegen das Grundgesetz und die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung liege nicht vor.

Damit scheiterte die Klage eines 1961 geborenen Mannes, der an unheilbarer Multiplen Sklerose leidet. Weil die Nervenerkrankung bei ihm unter anderem zu Erektionsproblemen führte, kaufte er das Potenzmittel »Cialis« auf eigene Rechnung und beantragte im Januar 2007 bei seiner Krankenkasse die Übernahme der Kosten. Eine Tablette (20 mg) kostet etwa 14 Euro. Ohne das Arzneimittel sei er wegen seiner Behinderung benachteiligt, argumentierte er.

Die Krankenkasse verwies jedoch auf die Gesundheitsreform der damaligen rot-grünen Bundesregierung von Anfang 2004: Seitdem sind all jene Arzneimittel aus dem Leistungskatalog ausgeschlossen, bei welchen die »Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund steht«. Dazu zählen Medikamente zur Behandlung der erektilen Dysfunktion wie »Cialis«, »Levitra«, »Viagra«, »Apomorphin« und andere.

Kritik an dieser Rückwärtsreform hatte es unter anderem in der Linkspartei geben. Schließlich dient letztlich jedes Medikament einer höheren Lebensqualität. Mit ähnlichen Argumenten wie bei Potenzmitteln wurden mittlerweile viele weit verbreitete Medikamente (etwa gegen Kopfschmerzen oder Magenbeschweren) aus dem Leistungskatalog der Kassen entfernt.

Bundessozialgericht bestätigt gesetzliche Regelung von 2004

Das Bundessozialgericht bestätigte diese gesetzliche Regelung von 2004. Sie verstoße weder gegen die UN-Konvention noch gegen das im Grundgesetz verankerte Diskriminierungsverbot. Der Gesetzgeber verletze seinen Gestaltungsspielraum jedenfalls nicht, wenn er angesichts der beschränkten Mittel der gesetzlichen Krankenversicherung solche Leistungen ausschließe, die in erster Linie einer Steigerung der Lebensqualität jenseits lebensbedrohlicher Zustände dienten.

Das Urteil hat weitreichende Folgen für Behinderte. »Kein Grundrecht auf Erektion« - hinter dieser Formulierung verbirgt sich ein Grundsatzurteil, das die Rechte behinderter Menschen »vorsichtig stärkt«, zieht die »Ärzte-Zeitung« auch Positives aus dem Urteil.

Mit ihrem Grundsatzurteil äußerten sich die obersten Sozialrichter nämlich erstmals zu der im Mai 2009 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention. Mit dem Grundgedanken der Inklusion (»Einschließung«) enthält diese das Recht »auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung«. Allerdings verlangt die Konvention keine Maßnahmen, die eine »unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen«.

Wie nun das Bundessozialgericht entschied, ist nicht die gesamte Konvention, wohl aber ihr Diskriminierungsverbot unmittelbar in Deutschland anwendbares Recht. Es konkretisiere das 1994 eingefügte Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes, insbesondere auch in seinem »leistungsrechtlichen Gehalt«.

Lohnt sich für Behinderte dennoch der Rechtsweg?

Unter Vorsitz des BSG-Präsidenten Peter Masuch hat der für das Leistungsrecht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zuständige Erste BSG-Senat damit eine Formel gefunden, an der zukünftig andere Senate etwa für das Arbeitsförderungsrecht und die Sozialhilfe nur schwer vorbeikommen werden. »Welche konkreten Ansprüche behinderte Menschen aus der Konvention ableiten können, beispielsweise auch im Schulrecht, wird sich allerdings erst mit der weiteren Rechtsprechung zeigen«, schreibt Martin Wortmann in der »Ärzte-Zeitung«.

Es kann sich also für Behinderte in vielen strittigen Fragen lohnen, den Rechtsweg einzuschlagen und zu klagen. Grundsätzlich gilt die UN-Konvention als behindertenfreundlicher als die deutsche Sozialgesetzgebung. Mehr »UN« bedeutet dann für körperlich oder geistig gehandicapte Menschen mehr finanzielle Möglichkeiten, aber auch mehr Rechte und mehr Selbstbestimmung im Alltag.

Für Kläger-Anwalt Oliver Tolmein ergibt sich aus der UN-Konvention ein umfassendes Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, und dies beinhalte auch das Zusammensein mit einer Partnerin. »Die Teilhabe findet hier in relativ kleinen, intimen Situationen statt«, sagte Anwalt Tolmein. Wie nun das BSG entschied, ist - nur bezogen auf das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung - das Diskriminierungsverbot der UN-Konvention im Wesentlichen deckungsgleich mit dem des Grundgesetzes.

Letzterem hatte auch schon das Bundesverfassungsgericht einen Leistungsgehalt zugesprochen, der aber unter dem Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit stehe. Potenzmittel gelten den Richtern als unverhältnismäßig.

Beamte können auf mehr Verständnis vor Gericht hoffen

Am Rande erwähnt: Beamte, die unter Potenzproblemen leiden, können auf mehr Verständnis durch die deutschen Gerichte hoffen, berichtet das »Versicherungs-Journal«. So hatte das Saarländische Verwaltungsgericht mit Urteilen vom 17. Februar 2011 entschieden, dass den Staatsdienern Beihilfeansprüche zustehen, wenn sie Medikamente wie »Cialis« oder »Viagra« benötigen. Der Staat zahlt dann einen Zuschuss.

HERMANNUS PFEIFFER

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