Chemiewaffen bleiben eine Gefahr

Die vollständige Vernichtung nach dem Verbot von 1997 wird wohl noch über zehn Jahre dauern

  • Wolfgang Kötter
  • Lesedauer: 4 Min.
Im World Forum Convention Center von Den Haag geht es dieser Tage um Massenvernichtungswaffen, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Nach 15 Jahren, so bestimmt es die am 29. April 1997 in Kraft getretene C-Waffen-Konvention, müssen alle Bestände an chemischen Waffen vernichtet sein. Doch davon kann trotz aller Fortschritte noch keine Rede sein.

Der knapp 220-seitige Vertrag zur Ächtung der Chemiewaffen ist das bisher umfassendste und auch erfolgreichste internationale Abrüstungsabkommen. Ihm gehören gegenwärtig 188 Staaten an, nicht beigetreten sind Syrien, Ägypten, Somalia, Nordkorea und Angola. Das Abkommen verbietet nicht nur, Giftgase anzuwenden, sondern auch, sie herzustellen oder zu besitzen; vorhandene Bestände müssen vernichtet werden.

Ursprünglich sollte dies innerhalb von zehn Jahren geschehen, aber selbst mit der jetzt auslaufenden Fristverlängerung konnte dieses Ziel bisher nicht erreicht werden. So verbleiben über 25 Prozent der ursprünglich mehr als 71 000 Tonnen chemischer Waffen.

Sieben Staaten haben offiziell ihren Chemiewaffenbesitz erklärt. Zu Russland, USA, Indien und Südkorea kamen später noch Albanien, Irak und Libyen hinzu. Während Albanien, Indien und Südkorea ihre Bestände bereits vollständig beseitigt haben, sind Russland und die USA deutlich im Zeitverzug. Die meisten Chemiewaffenbestände Iraks wurden nach dem 2. Golfkrieg unter UN-Aufsicht zerstört, verblieben sind noch zwei Depots mit Altbeständen aus den 1980er Jahren. In Libyen war die Vernichtung der über 25 Tonnen gemeldeten Giftstoffe durch die Kämpfe des vergangenen Jahres ins Stocken geraten. Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi waren sogar noch zwei weitere illegale Chemiewaffenlager entdeckt worden. Inzwischen haben aber die internationalen Inspektoren ihre Arbeit vor Ort wieder aufgenommen. Bei weiteren Ländern werden geheime Giftgasvorräte beziehungsweise Waffenprogramme vermutet. Das renommierte Washingtoner Henry L. Stimson Center zählt dazu Ägypten, Äthiopien, China, Iran, Israel, Nordkorea, Myanmar, Pakistan, Serbien, Sudan, Syrien, Taiwan und Vietnam.

Für die Kontrolle der Vertragserfüllung ist die »Organization for the Prohibition of Chemical Weapons« (OPCW) verantwortlich. Die OPCW überwacht die Vernichtung von C-Waffen wie auch ihrer Produktionsanlagen, internationale Kontrolleure inspizieren darüber hinaus die zivile Chemieindustrie und Forschungslabors. Außerdem unterstützt die Organisation ihre Mitgliedstaaten bei der Abwehr möglicher Giftgasangriffe und fördert die friedliche Kooperation bei der chemischen Forschung und Entwicklung.

Unter der Leitung von Ahmet Üzümcü aus der Türkei arbeiten in Den Haag über 500 Mitarbeiter aus 76 Ländern mit einem Jahresbudget von rund 70 Millionen Euro. Das Technische Sekretariat, dem der Generaldirektor vorsteht, wird vom Exekutivrat beaufsichtigt, während sich die Konferenz aller Mitgliedstaaten politische und strategische Grundsatzentscheidungen vorbehält.

Die chemische Abrüstung wird Experten zufolge insgesamt über 50 Milliarden Dollar kosten. Weltweit arbeiten 37 Entsorgungsanlagen für C-Waffen; 43 Produktionsanlagen wurden zerstört und 21 für eine zivile Produktion umgerüstet. Inspektoren waren bereits zu über 4680 Kontrollen in 81 Ländern unterwegs, um das Verbot zu überwachen.

Ende vergangenen Jahres erklärten neben Libyen auch Russland und die USA, dass sie selbst die verlängerte Frist nicht einhalten werden. Russland besaß insgesamt 40 000 Tonnen, die USA etwa 31 500 Tonnen. In den USA sind zwar rund 90 Prozent der Vorräte vernichtet, aber nach offiziellen Angaben wird die Beseitigung erst im Jahre 2023 vollendet sein. Russland hat nach eigenen Angaben etwa 65 Prozent seiner Waffenvorräte entsorgt. Offiziell wird als Endtermin das Jahr 2015 angegeben, Experten halten das jedoch für unrealistisch.

Durch die zum Teil beträchtlichen Verzögerungen entstehen neue Risiken für das Leben von Mensch und Umwelt. Für die übrigen Vertragsstaaten tauchte damit die Frage auf, wie die Überschreitung der Vernichtungsfristen geahndet werden sollte. Im Dezember folgte die Mitgliederkonferenz dann einem Vorschlag des Exekutivrats. 101 Staaten stimmten dafür und ein Konsens scheiterte nur an der Gegenstimme Teherans, dessen Vertreter den USA vorwarf, absichtlich Chemiewaffen zurückzuhalten. Die Mehrheit jedoch wertet die Verzögerungen nicht als Vertragsverletzung, sondern durch »höhere Gewalt« verursacht, wie technische Schwierigkeiten und Umweltprobleme. Die säumigen Mitglieder müssen nun eine detaillierte Aufstellung ihres Vernichtungsprogramms sowie einen spezifischen Zeitplan für die restliche Waffenbeseitigung einreichen. Der Generaldirektor wird ermächtigt, Sonderinspektionen zu veranlassen. Gefordert wird auch ein umfangreiches Paket von transparenz- und vertrauensbildenden Maßnahmen.

Für die Zukunft diskutieren die Mitgliedstaaten darüber, wie die Organisation nach Beendigung der chemischen Abrüstung umstrukturiert werden soll. Während die Industriestaaten den Schwerpunkt auf die Kontrolle und Nichtverbreitung setzen, fordern die Entwicklungsländer eine Ausweitung der Kooperation in der friedlichen Chemieindustrie.


Hintergrund

Zu den Chemiewaffen zählen neben toxischen Chemikalien wie Yperit, Chlor- und Phosgengase, sowie LOST auch die Nervengase Sarin, Tabun und VX sowie Vorprodukte und die aus zwei Komponenten bestehenden Binärwaffen; dazu die entsprechende Munition, Geräte und Ausrüstungen. Da viele chemische Stoffe dual, das heißt sowohl für friedliche als auch für kriegerische Absichten genutzt werden können, entscheidet die Zweckbestimmung. Je nachdem, ob die Substanzen zivile oder militärische Verwendung finden, werden sie in drei Listen nach unterschiedlichen Gefahrengraden unterteilt: Kampfstoffe, zivile Produkte mit militärischer Nutzbarkeit, obsolete Kampfstoffe.

Nicht unter das Verbot fallen chemische Stoffe zur industriellen, landwirtschaftlichen, forschungsbezogenen, medizinischen und pharmazeutischen Nutzung. Erlaubt bleiben Schutzmaßnahmen gegen chemische Waffen, Einsatzmittel wie Tränengas und Reizkampfstoffe zur Bekämpfung innerstaatlicher Unruhen in Friedenszeiten und giftige Chemikalien, die wie etwa Raketentreibstoff, anderen militärischen Zwecken dienen. W.K

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