Es denkt, also bin ich

Wissenschaftler werfen neues Licht auf die Funktionsweise des menschlichen Gehirns

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 6 Min.

Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie gehen auf eine Geburtstagsfeier, wo Ihnen der Gastgeber ein großes Stück Sahnetorte anbietet. Was tun Sie? Greifen Sie bedenkenlos zu? Oder lehnen Sie dankend ab? Nicht wenige Menschen dürften diesen inneren Zwiespalt so empfinden, als würden zwei Teile ihres Selbst um die Entscheidung ringen. Ein Teil möchte der Versuchung nachgeben und die Torte genießen. Der andere Teil, der vielleicht um die Gewichts- oder Gesundheitsprobleme des Betreffenden weiß, möchte darauf verzichten. Welche Seite die Oberhand gewinnt, ist erfahrungsgemäß von Fall zu Fall verschieden. Am Ende jedoch setzt sich immer nur eine Verhaltensweise durch.

Schon an diesem einfachen Beispiel wird deutlich, dass unser Gehirn häufig mehrere Standpunkte gleichzeitig vertritt, die gewissermaßen darum ringen, »die Kontrolle über den einzigen Output-Kanal des Verhaltens zu erlangen«, wie der amerikanische Neurowissenschaftler David Eagleman sagt. Diese Fähigkeit des Gehirns kommt auch darin zum Ausdruck, dass ein Mensch innerlich mit sich selbst reden, sich selbst verfluchen oder Mut machen kann. Ausgehend davon vergleicht Eagleman das menschliche Gehirn mit einer parlamentarischen Demokratie, bei der viele Experten verschiedene Aufgaben lösen müssen, um die jeweils optimale Handlungsstrategie zu finden. Die Rolle der Experten übernehmen im Gehirn neuronale Programme, von denen manche die Reize aus der Umwelt verarbeiten, andere die inneren Zustände des Körpers wie Hunger, Lust oder Angst kontrollieren und wieder andere die künftigen Chancen und Gefahren für das Individuum kalkulieren.

Mancher mag sich hier vielleicht an Sigmund Freud erinnert fühlen, der bereits 1923 von drei Akteuren in der menschlichen Psyche sprach, die in beständiger Konkurrenz zueinander stehen: das »Es« als Bündel der unbewussten Triebe, das »Ich« als das bewusst Erlebte, das gegebenenfalls jene Triebe zügelt und das »Über-Ich«, dem dabei die Funktion des moralischen Gewissens zukommt.

Zwar gilt das Freudsche Modell heute in vielen Punkten als überholt. Erhalten hat sich jedoch der Gedanke, dass unser Gehirn aus verschiedenen Untereinheiten bzw. neuronalen Systemen besteht, die manchmal miteinander, manchmal gegeneinander arbeiten, um letztlich zu einer eindeutigen Handlungsentscheidung für das Individuum zu gelangen.

Sehen wir uns dazu ein weiteres Beispiel an: In einem Experiment stellten die israelischen Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky ihre Versuchspersonen vor die Wahl, entweder 100 Dollar gleich oder 110 Dollar in der nächsten Woche zu erhalten. Die meisten wollten die 100 Dollar sofort haben. Dann veränderten die Psychologen die Situation ein wenig und fragten jeden Probanden: Wenn ich Ihnen 100 Dollar in 52 Wochen und 110 Euro in 53 Wochen anbiete, wofür entscheiden Sie sich? Diesmal erklärte die Mehrheit, 53 Wochen warten zu wollen. Obwohl beide Szenarien im Ergebnis identisch sind - wer eine Woche wartet, gewinnt 10 Dollar -, wurde im ersten Fall nur das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert. Im zweiten Fall, wo die Belohnung in weiter Ferne lag, übernahmen die mit der Zukunft befassten Gehirnbereiche die Entscheidung.

Wirtschaftswissenschaftler ver- muten, dass die hier aufgezeigte Konkurrenz von neuronalen Systemen auch ein Auslöser für die 2005 in den USA geplatzte Immobilienblase war. Viele Amerikaner wollten sich die Chance, sofort ein Haus kaufen zu können, nicht entgehen lassen. Die Gefahr, dass die Zinsen für die aufgenommenen Kredite irgendwann steigen könnten, war zu weit weg, um vom Gehirn frühzeitig berücksichtigt zu werden.

Im Allgemeinen gilt, dass ein Mensch von den meisten Denkprozessen, die einer Entscheidung vorausgehen, keinerlei Kenntnis besitzt, da diese Prozesse im Gehirn unbewusst ablaufen. Lediglich ihr Resultat wird dem bewussten Ich mitgeteilt, welches danach allerdings die Illusion hegt, es habe die Entscheidung sozusagen in eigener Regie getroffen.

Dass es sich hier tatsächlich um eine Illusion handelt, zeigt auf dramatische Weise das sogenannte Alien-Hand-Syndrom (AHS), welches die Folge einer speziellen Hirnschädigung ist. Dabei verlieren die betroffenen Menschen über eine ihrer Hände völlig die Kontrolle. Sie empfinden diese Hand als fremd und nicht zu ihrem Körper gehörig. Im Extremfall kann die »fremde« oder Alien-Hand ihrem Besitzer sogar an die Gurgel fahren, so dass dieser seine andere Hand einsetzen muss, um sich nicht selbst zu ersticken. Offenbar wird die Bewegung der »fremden« Hand von neuronalen Programmen gesteuert, die dem Bewusstsein der Betroffenen nicht zugänglich sind.

Das, was wir gemeinhin »unser Ich« nennen, ist also keine unteilbare Einheit im Gehirn. Und es ist auch nicht so etwas wie ein kleiner Kobold im Kopf, der alle Denkvorgänge überwacht. Das Ich ist selbst nur ein Resultat dynamisch organisierter Hirnprozesse, die gewöhnlich automatisiert ablaufen und mit einem gewissen subjektiven Erleben korreliert sind. Erst wenn diese Prozesse nachhaltig gestört werden, wie im Fall des Alien-Hand-Syndroms, geht das Gefühl eines einheitlichen Ich-Bewusstseins verloren. Störungen der Ich-Identität treten aber auch bei Schizophrenie-Patienten auf. Diese nehmen zum Beispiel ihre eigenen Gedanken als fremd wahr und meinen, sie würden ihnen von außen eingegeben. Manche behaupten gar, sie seien mehrere Personen zugleich oder diese nacheinander. Das alles zeigt, dass das Ich-Bewusstsein nicht absolut stabil, sondern vom reibungslosen Funktionieren zahlloser Hirnprozesse abhängig ist.

Eine weitere Besonderheit des Gehirns besteht darin, dass es gewöhnlich gleich mehrere neuronale Programme bereithält, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen, schreibt David Eagleman in seinem jüngst erschienenen Buch »Inkognito«, das den Leser mit auf eine Reise durch die faszinierende Welt der Hirnforschung nimmt. Denn das Gehirn ist ein Produkt der biologischen Evolution, die sich mit einer gefundenen Lösung für ein Problem nur selten zufrieden gibt. »Sie erfindet ihre Lösungen unaufhörlich neu«, meint Eagleman und erklärt damit die erstaunliche Robustheit des Gehirns, welches häufig sogar imstande ist, selbst größere Schädigungen ohne nachteilige Folgen für seinen Träger zu kompensieren.

So stellten Mediziner unlängst fest, dass es Menschen gibt, bei denen große Teile des Gehirns durch Alzheimer-Plaques zerstört sind, die aber trotzdem keine Symptome einer Alzheimer-Erkrankung erkennen lassen. Wie ist das möglich? Eagleman vermutet, dass das Gehirn dieser Menschen über eine »kognitive Reserve« verfügt, die es ihnen erlaubt, die Aufgaben der bereits durch Alzheimer-Plaques geschädigten Programme auf andere neuronale Strukturen zu übertragen.

Inzwischen spricht vieles dafür, dass eine lebenslange geistige Aktivität die Bildung einer solchen kognitiven Reserve fördert und den Ausbruch der Alzheimer-Erkrankung verzögert. Im Jahr 2008 haben US-Forscher in einer Studie die Denk- und Gedächtnisleistungen von Menschen verglichen, in deren Gehirnen man zuvor etwa die gleiche Menge an Alzheimer-Plaques festgestellt hatte. Dennoch waren die kognitiven Defizite individuell sehr verschieden. Am geringsten ausgeprägt waren sie bei Menschen, die regelmäßig einer geistigen oder sozialen Tätigkeit nachgingen. Aber auch durch körperliche Aktivitäten wie Gartenarbeit oder Spaziergänge kann man im Alter dem Ausbruch der Krankheit vorbeugen. Eine mögliche Erklärung dafür wäre, dass die körperliche Betätigung den Kreislauf stärkt und damit den Blutfluss zum Gehirn verbessert.

David Eagleman: Inkognito. Die geheimen Eigenleben unseres Gehirns. Campus Verlag. 328 S., 24,99 Euro

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal