Das Recht auf den eigenen Tod

Für Janusz Korczak

  • Ingrid Heinisch
  • Lesedauer: 3 Min.

Das zentrale Mahnmal des ehemaligen nationalsozialistischen Vernichtungslagers Treblinka, etwa hundert Kilometer von Warschau entfernt, besteht aus Steinen - Steine wie sie die Juden ihren Toten aufs Grab legen. Ein Teil der Steine trägt die Namen der Orte, woher die ermordeten Juden kamen. Nur ein Stein führt den Namen eines Menschen: Janusz Korczak.

Vor genau siebzig Jahren hat der berühmte jüdische polnische Pädagoge und Schriftsteller dort in Treblinka die Gaskammer betreten, gemeinsam mit den Waisenhauskindern, die ihm anvertraut waren und deren Schicksal ihm wichtiger war als sein Leben.

Janusz Korczak (Foto: dpa) wählte dieses Los freiwillig, er war ein weltberühmter Mann. Selbst im letzten Moment bestand für ihn die Möglichkeit, sich zu retten.

Seine Ideen waren für die damalige Zeit nicht nur ungewöhnlich, sie waren geradezu revolutionär. Kinder seien den Erwachsenen nicht unterlegen, sie seien ihnen ebenbürtig. »Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind es schon«, so formulierte er es.

In dem Waisenhaus, das er in Warschau gegründet hatte, gab es keine Erziehung durch Zwang. Die Kinder erstellten Regeln und achteten selbst darauf, sie einzuhalten. So wurde Korczak zum Vorreiter der Reformpädagogik.

Mehr noch. Er formulierte schon 1911 in seinem Buch »Wie man ein Kind lieben soll« die Grundrechte des Kindes: »Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist, das Recht auf diesen Tag, das Recht auf seinen eigenen Tod.«

Dieses letzte Recht klingt uns fremd, aber Korczak glaubte, dass Kinder auch das Recht hätten, ihre Erfahrungen mit Schmerz und Leid zu machen, dass sie das Recht auf Risiko hätten, dass Erwachsenen sie schützen sollten, aber nicht bevormunden.

Korczak hätte als Arzt Karriere machen können, doch sein Dom Sierot (Waisenhaus) in Warschau zu leiten, war ihm wichtiger. 1940 mussten die Kinder dort mit allen anderen Warschauer Juden in ein Ghetto übersiedeln. Korczak ging mit ihnen, obwohl er früher als die meisten Juden den Vernichtungswillen der Nationalsozialisten voraussah. Er spielte mit dem Gedanken einer Emigration nach Israel, aber er brachte es nicht fertig, die Kinder im Stich zu lassen.

Anfang August 42 begann die SS, das Ghetto zu räumen und die Juden in riesigen Eisenbahntransporten in das Vernichtungslager Treblinka zu schicken. Korczak hätte sich noch in letzter Minute retten können, doch er tat es nicht. Die Nazis nahmen seinen Kindern das Recht auf den eigenen Tod. So weit es ihm möglich war, wollte er seine Kinder schützen und ihnen ihre Würde bewahren. Auch seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen folgten ihm mutig.

Janusz Korczak ist vor allem im Westen Deutschlands noch relativ unbekannt. In Polen und Frankreich dagegen ist er ein Held und Vorbild. Dort wurde 2012 zum Janusz-Korczak-Jahr bestimmt, um das sich vielfältige Veranstaltungen ranken. Ein Höhepunkt wird im Oktober ein Kindertheaterfestival in Polen sein.

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