Der »Reigen« - weit über Wien hinaus

360 von F. Meirelles

  • Marc Hairapetian
  • Lesedauer: 3 Min.

Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, sah in Arthur Schnitzler eine Art literarischen Doppelgänger: »So habe ich den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition - eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung - alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe.«, schrieb er dem österreichischen Erzähler und Dramatiker. »Ja, ich glaube, im Grunde ihres Herzens, sind sie ein psychologischer Tiefenforscher...«

Werke Schnitzlers wurden mehrfach verfilmt. Zu den herausragendsten gehören Max Ophüls »La Ronde« (nach dem einstigen Skandalstück »Der Reigen«) und Stanley Kubricks finales Epos »Eyes Wide Shut« (nach der »Traumnovelle«). Es ist vorstellbar, dass Fernando Meirelles »360« Wohlgefallen bei »King Arthur« gefunden hätte, präsentiert der Regisseur doch - in sehr freier Bearbeitung - Schnitzlers nimmer endenden »Reigen« aus Lieben, Träumen, Sterben in stilistischer Vollendung.

Das Drehbuch stammt von Peter Morgan, der mit »Der letzte König von Schottland« (2006) und »Frost/ Nixon« (2008) bewiesen hat, dass er auch intelligente, politische Dialoge schreiben kann, die zudem Einblicke in die Seele seiner Protagonisten gewähren. Als Geschäftspartner des als korrupter Fiesling agierenden Moritz Bleibtreu hat er einen kleinen Cameo-Auftritt.

Wie beim Würfeln treffen die unterschiedlichen Figuren eher zufällig aufeinander, gehen voneinander fort und treffen sich wieder, ob in London, Paris oder Phoenix der Gegenwart - Meirelles (»City of God«) geht über Schnitzlers Schauplatz Wien hinaus. Zum internationalen Starensemble des brasilianischen Regisseurs gehören Rachel Weisz, Jude Law, Maria Flor, Anthony Hopkins, Ben Foster oder Dinara Drukarova. Sie spielen sich gegenseitig die Bälle zu, dass es eine wahre Freude ist, ihnen dabei zuzusehen: einander begehren und enttäuschen, lieben und betrügen ... Meirelles liefert dazu mit seinem Kameramann Adriano Goldman stimmungsvolle, fast dokumentarisch anmutende Bilder.

Die schönste Episode spielt allerdings doch am Wiener Ring: Der im Auto wartende russische Fahrer (Vladimir Vdovichenkov) eines mafiösen Geschäftsmannes (Mark Ivanir) wird von einer jungen Slowakin (Gabriela Marcinkova) angesprochen. Ihre Schwester (Lucia Siposová), die sich als Prostituierte verdingt, »verwöhnt« ausgerechnet seinen Chef im Hotelzimmer. Zwischen dem zunächst stoischen Sergei und dem »süßen Mädel« Anna beginnt eine zarte Liebesgeschichte, die erst dadurch in Gang kommt, weil sich die beiden mehr in der Traumwelt der Literatur zuhause fühlen als im wirklichen Leben. Vladimir Vdovichenkov und Gabriela Marcinkova erfüllen die Szenerie mit sich vorsichtig abtastender Poesie. Am Ende wird der »Reigen« durchbrochen: Der Zuhälter (Johannes Krisch) und der Mafiaboss haben sich gegenseitig getötet, während die Prostituierte mit einem Geldkoffer flieht - und Anna und Sergei ihre Vergangenheit gemeinsam hinter sich lassen. Jede Begegnung kann dein Leben verändern - und manche dem Zuschauer eine Kinosternstunde schenken.

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