Gefangen zwischen Anpassung und Abgrenzung

Studie belegt: 45 Prozent der in Deutschland lebenden Türken wollen zurück in ihre Heimat, die Jugend neigt zu strenger Religiösität

Fühlen sich Türken in Deutschland mittlerweile zu Hause? Und wie blicken sie in die Zukunft? Eine gestern veröffentlichte Umfrage gibt einen Einblick in das Empfinden von drei Generationen.

45 Prozent aller Türken in Deutschland wollen zurück in ihre Heimat, 62 Prozent sind am liebsten mit Türken zusammen, 46 Prozent wünschen sich, dass irgendwann mehr Muslime in Deutschland leben als Christen.

Gibt das Grund zur Panik? Muss man anhand dieser Ergebnisse von einer »verfehlten Integration« sprechen, wie die Pressemitteilung des Meinungsforschungsinstituts Info GmbH plakativ fragt? Die Studie zeigt vieles, aber vor allem, wie widersprüchlich und zerrissen deutsch-türkische Lebenswelten sind und wie unterschiedlich die Generationen über ihr Leben in Deutschland denken. Für die Studie hatte die Info GmbH in den vergangenen zwei Monaten mehr als 1000 Menschen mit deutsch-türkischen Wurzeln ab einem Alter von 15 Jahren befragt und dafür die Nachnamen aus türkischen Telefonbüchern mit denen in Deutschland abgeglichen.

Herausgekommen ist ein zwiespältiges Bild der Türken auf Deutschland, sich selbst und andere. Am deutlichsten zeigt sich die Identitätskrise wohl unter den Jugendlichen, das überrascht wenig. Zwar sind es vor allem die 15- bis 29-Jährigen, die außerhalb der türkischen Gemeinschaft auch gerne Kontakt zu anderen haben, gleichzeitig fühlt sich aber fast die Hälfte in Deutschland nicht erwünscht (45 Prozent). Über 40 Prozent gaben an, in der Öffentlichkeit wegen ihres Aussehens schon mal beleidigt worden zu sein, fast die Hälfte der Befragten musste sich bereits Beleidigungen wegen ihrer Religionszugehörigkeit anhören. Diese Ablehnung schlägt anderen Altersgruppen nicht annähernd so drastisch entgegen, wie aus der Studie hervorgeht. Ausgerechnet die dritte Generation von Türken also, für die sich ein Leben in Deutschland mittlerweile normal anfühlen sollte, erlebt das Gegenteil.

Genau diese Ausgrenzungserfahrungen sind auch der Grund, warum sich viele Jugendliche auf Identitätssuche begeben und diese zunehmend in streng religiösen Ansichten mündet, so Barbara John, langjährige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats und mittlerweile Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU-Terrors. Die Aussagen der Studie scheinen ihr zuzustimmen. Immerhin schätzten sich über 35 Prozent als »streng religiös« ein. 30 Prozent der jüngeren Generation waren schließlich der Meinung, dass Atheisten minderwertige Menschen seien und auch die Sympathien für die Koranverteilung von Salafisten vor einigen Monaten sind unter den 15- bis 29-Jährigen am größten. Allerdings wurde in den Interviews nicht nachgefragt, inwiefern der Salafismus und seine Inhalte überhaupt bekannt sind. Im Vergleich dazu lehnen knapp 70 Prozent der über 50-Jährigen die Verteilungsaktion ab.

Eine Tendenz zur religiösen Radikalisierung der Jugend sahen aber weder der Geschäftsführer der Info GmbH, Holger Liljeberg, noch Barbara John. Starke religiöse Bezüge sind für die meisten Jugendlichen wohl eher Kopfsache und Ausdruck eines sich entwickelnden Selbstbewusstseins, als dass sie ihre Religion wirklich streng praktizieren würden. Nur 16 Prozent gaben an, fünf Mal täglich zu beten.

Und die Älteren? Obwohl viele von ihnen bereits lange in Deutschland leben, sehen knapp 40 Prozent der über 30-Jährigen in der Türkei immer noch ihre eigentliche Heimat. Interessant ist, dass die Mehrheit der 30- bis 50-Jährigen plant, innerhalb der nächsten zehn Jahre ins Land ihrer Eltern zurückzukehren. Entweder weil sie in der Türkei ihre eigentlichen Wurzeln sehen oder weil sie ihren Ruhestand dort genießen wollen. Und 39 Prozent geben an, auswandern zu wollen, weil das Wetter im Süden viel besser ist als in Deutschland.


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