Perlenfänger

Cui bono, Fred Gehler? Texte und Kritiken aus fünf Jahrzehnten

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 4 Min.

Knapp fünfhundert Seiten kompakte Filmgeschichte zum Lesen sind hier anzukündigen. Eine Auswahl (Ralf Schenk) aus dem reichen Gesamtwerk des Leipziger Filmpublizisten Fred Gehler legt die DEFA-Stiftung in ihrer Schriftenreihe (zum 75. Geburtsjahr des Autors) vor: Filmkritiken, eher noch mehr Reflexionen über Filme und Filmemacher aus fünf Jahrzehnten. Er hat - zusammen mit Ulrich Kasten - bemerkenswert unaufgeregte, sehr informative Fernsehdokumentationen über große Leute der deutschen Filmgeschichte gestaltet. Und Gehler hat in Leipzig lange das legendäre Programmkino »Camera« geleitet und von 1993 bis 2004 das Dok-Filmfestival Leipzig.

Gehlers ästhetisches, publizistisches Vorbild war Herbert Jhering, der in den 1920er Jahren durch brillante Kritiken im Berliner Börsen-Courier erheblichen Einfluss auf das Schauspieltheater nahm und sich energisch für neue Talente, wie etwa Brecht, einsetzte. Später kam für Gehler der bedeutende polnische Filmhistoriker Jerzy Toeplitz hinzu, dessen fünfbändige Weltfilmgeschichte ein Grundlagenwerk darstellt und an dessen deutscher Version (im Henschel Verlag) Gehler mitarbeitete. Toeplitz‘ Credo »Der Filmhistoriker ist vor allem Kulturhistoriker« zitiert er mit Nachdruck. Daran hielt auch er sich.

In zahlreichen Texten hat Gehler über Film und Kino geschrieben, seine Meinungen gesagt und Erwartungen nicht verschwiegen: an Filmemacher, Autoren, an die Spielplan- und Ankaufspolitik der DDR-Oberen, an Festivals. Nach eigenem Willen und mit subjektiver Entschiedenheit hat er Filme ausgesucht, sie dargestellt, beschrieben und bewertet. Er verfügte über ein fabelhaftes Filmgedächtnis und schrieb stets mit ästhetischem und stilistischem Anspruch. Sein Schreiben war auch weithin mehr ein Nachdenken, Überdenken, Reflektieren über Filme oder herausgefordert durch Filme als eine konventionelle Filmkritik. Er konnte sich die Filme, über die er schrieb, immer nach Geschmack und nach eigener Zuneigung aussuchen. Die betonte Subjektivität hat er sich über all die Jahre in der DDR erhalten, hat sie verteidigt, kultiviert und zuweilen auch extrem verfestigt. So war er ein Perlenfänger, und so fing er nur Perlen der Weltfilmkunst. Folglich ließ er Filme weg, zu denen er keinen Zugang fand, auch DEFA-Filme. Das ist legitim und verständlich, die Lücken muss man aushalten oder verzeihen.

Stets dachte Gehler in ausgeprägt internationalen Kontexten von Qualität und Anspruch. Da war er unnachgiebig und hatte - bis heute, denke ich - in vielem Recht. Seine Querlinien zu zeitgenössischen Filmen aus Polen oder der ČSSR, aus Italien oder Frankreich bleiben gültig. Freilich war solch Spannungsfeld auch manchmal ungerecht gegenüber der bescheidenen Filmproduktion des kleinen Landes DDR: Mit Shakespeare kann man jeden Dramatiker zum Schweigen bringen.

Sein Leserkreis war oft begrenzt: die »Deutsche Filmkunst« und der »Sonntag«, für die er arbeitete, waren keine Massenblätter. Der Berliner Rundfunk mit seiner legendären Reihe »Atelier und Bühne«, in der Gehler seine Texte auch oft selbst sprach, war die Ausnahme. Aber seine Urteile galten etwas in der Branche und in der kulturpolitischen Szene.

Gehler kam immer von der Seite, was nicht Leipzig als Ort in der Provinz meint, sondern den ästhetischen Anspruch und die Nicht-Konformität seiner Wertungen. Das brachte ihm auch mehrfach ziemlichen Ärger mit orthodoxen Funktionären der DDR-Filmpolitik ein (wie man es in dem einleitenden Interview nachlesen kann.) Gehler war gewiss kein Dissident, er war subversiv und querdenkend und insofern unbequem und nötig. Wenngleich »Film zum Nachlesen«, wie jetzt mit Gehlers gesammelten Texten, immer etwas Improvisatorisches und Fragmentarisches bleiben wird, so bilden solche Dokumente wichtige, lesenswerte Zeugnisse, die viel auch über das Land und seine Bewohner aussagen, für die sie geschrieben wurden.

Diese Quellensammlung von Rang konkurriert mit der sehr ähnlichen Schriftenreihe, die das Filmmuseum Berlin im Münchner Verlag »edition text & kritik« seit Jahren herausgibt und dort Texte wichtiger deutscher Filmkritiker publiziert (allerdings nur solche, die nicht mehr leben, wie Kurt Pinthus und Ernst Jäger, aus der DDR bislang nur von Hans-Ulrich Eylau.) Für eine weitere sinnvolle Publikationsstrategie in der Bundesrepublik wäre ernsthaft zu überlegen, diese Überlieferungen durch Ausgaben mit Kritiken von Margit Voss (Berliner Rundfunk) oder Rosemarie Rehahn (Wochenpost) fortzuführen.

Notwendiges PS.:

Der Leipziger Historiker Andreas Kötzing hat, als er seine - kürzlich verteidigte - Dissertation über das Leipziger Dok-Film-Festival schrieb, rund 500 Seiten Dokumente gefunden, in denen Fred Gehler von der Stasi in Leipzig von 1968 bis 1976 als IM Walter geführt wurde, mit Berichten, handschriftlicher Verpflichtungserklärung u. ä. Kötzing hat darüber unter dem Titel »Keine einfachen Wahrheiten« einen eigenen Aufsatz veröffentlicht (Deutschlandarchiv Nr. 6/ 2012). Fred Gehler hat an gleicher Stelle die IM-Dokumente als »Fälschung« und Kötzings Aufsatz als »spekulatives Konstrukt« bezeichnet.

Dieser strikte Gegensatz ist offenbar nicht zu überwinden und muss so stehenbleiben. Er entwertet die Substanz der Filmtexte Gehlers nicht, jedoch: es ist wie bei altem Silber mit Patina - ein Schatten bleibt.

Cui bono, Fred Gehler?, Kritiken und Texte aus fünf Jahrzehnten, herausgegeben. von Ralf Schenk, DEFA-Stiftung Berlin 2012, 452 S., ISBN 978-3-00-037266-7, 12,50 €, Versand über defa-Spektrum GmbH

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