Die Kamera

Aléa Torik: »Das Geräusch des Werdens«

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Das ist ein Buch vom Weggehen und Wiederkommen, ein Buch vom Verlorengehen und Wiederfinden, ein Buch von Ferne und Nähe, Klarheit und Dunkelheiten, ein Roman dreier Generationen, in dem sich Zeiten und Orte vermischen, Lebenswege kreuzen und wieder auseinander driften. Es ist ein Buch der Irritationen, das einen beim Lesen süchtig und schwindlig machen kann. Mit wenigen Worten: Es ist ein erstaunliches, fulminantes Romandebüt der aus Siebenbürgen stammenden, noch nicht dreißigjährigen Autorin.

Denn - und das muss gleich dazu gesagt werden - es gibt in diesem raffinierten Raum-Zeit-Menschen-Geflecht auch Fixpunkte und klare Linien. Da ist zum einen die Haupthandlung, eine ganz besondere Liebesgeschichte zwischen Marijan und Leonie. Den jungen Marijan, der dreizehnjährig erblindete, hat es aus dem fernen rumänischen Dorf Marginime mit seiner Mutter nach Berlin verschlagen.

Die Mutter ist gestorben, er bleibt allein, wenn nicht hilflos, so doch orientierungslos zurück. Eines Tages begegnet er im Vorübergehen Leonie. Sie verliebt sich sofort in ihn und setzt alles daran, ihn zu finden. Als sie sich wieder begegnen, werden sie ein Liebespaar, und das bedeutet für beide Sinn und Orientierung.

Die wichtigen Orte im Roman, wie schon gesagt, eine Art Fixpunkte, sind damit genannt, und sie könnten nicht gegensätzlicher sein: das (sehr) gegenwärtige Berlin mit allen historischen und neuen Attraktionen und das Dörfchen Marginime am Fuße der Karpaten. Dort steht die Zeit seit hundert Jahren, über alle politischen Veränderungen hinweg, fast still, und der Schuster fertigt noch die Schuhe per Hand an, Schuhe, in denen man sein Leben lang sicher laufen kann.

Zum Thema »Berlin« muss hier auf das Kapitel »Im Salon Sucre« hingewiesen werden, in dem die Autorin alle Örtlichkeiten und Attraktionen Berlins über siebzehn Seiten in einmaliger Weise, nämlich ganz lapidar, aufzählt; und dazwischen steht im Regen und »ein wenig verloren« ein Liebespaar. Dieses über-reale (surreale) Kapitel bildet einen krassen Gegensatz zum fiktionalen Erzählen, ein geschickter Einschub der Autorin. Den dritten Fixpunkt des Romans und eigentlichen Ausgangspunkt der Handlung finden wir erst später: Es ist eine Bank gegenüber der Berliner Nationalgalerie, auf der Marijan öfters sitzt. Da drückt ihm eines Tages ein Fremder eine Kamera in die Hand. Ich kann nicht fotografieren, sagt Marijan, ich bin blind. »Blind sind sie hier alle«, sagt der Fremde, »man muss nicht unbedingt etwas sehen, um zu fotografieren.«

Marijan hat eine Passion gefunden, und eines Tages überredet ihn Leonie, seine Bilder in einer Galerie auszustellen. Bei der Vernissage hält Marijan eine Rede, bei der er von seinem Schicksal berichtet und vom Leben und Schicksal all derer, mit denen er verbunden ist. »Ich hatte ja keine Motive außer dem einen großen Motiv, meiner Blindheit zu entkommen ... Ich wollte nicht das Sehen und auch nicht die Blindheit abbilden. Deswegen habe ich mich für das Dazwischen entschieden.«

Was der junge Mann von sich selbst berichtet, steht im Buch unter der immer wiederkehrenden Kapitelüberschrift. »Das Geräusch des Werdens«. Es bleibt Geheimnis, was dieses Werden, dieses Geräusch, auch was das Dazwischen ist. Dazu kommen einige Rätselfiguren, in Berlin ist es Leonies Freund, der Straßenjongleur Meddox, im Dörfchen sind es die beiden Brüder Varian, die zwei und einer sind. Leonies Vater Valentin kam von Marginime und geht dorthin zurück, um ein Hotel mit Namen »Paradies« zu bauen.

Viel mehr soll nicht gesagt und gefragt werden - jedoch noch eins: Ist der Name Aléa Torik (Aleatorik) ein Spiel des Zufalls oder doch ein bewusstes Rätselspiel für die Fantasie der Leser, einem Würfelspiel gleich, bei dem die Mitspieler die Zahl der unteren, verdeckten Seite erraten sollen?

Aléa Torik: Das Geräusch des Werdens. Roman. Osburg Verlag. 367 S., geb., 19,95 €.

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