Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Im Sommer ist es hier zu heiß, im Winter zu kalt. Objektiv lässt sich das nicht bestimmen, es geht eher um die gefühlte Hitze, die gefühlte Kälte. Letztlich ist auch das eine Frage der Weltanschauung. Joseph Brodsky etwa kam nie im Sommer hierher, und weil er nie im Sommer hier war, wusste er auch, dass er nie im Sommer hierher kommen würde. Nicht einmal, wenn man ihm ein Gewehr auf die Brust setzen würde, wie er bekräftigend hinzufügte. Wie gesagt, so funktioniert Weltanschauung, auch bei einem Dissidenten.

Ich war im letzten Winter hier, allerdings nur einige Tage auf Fototour, und ich würde nie sagen, dass ich nie mehr im Winter hierher kommen werde, obwohl ich kriechende Kälte auch in Berlin haben kann. Das Schöne: Im Winter werden die Venezianer auf wundersame Weise freundlich, vor allem bei Hochwasser. Anscheinend spüren sie das Versinken ihrer Stadt, und jeder Fremde ist plötzlich ein potenzieller Retter.

Auch ich kam mir als Teil einer besonderen Spezies vor. Aus jeder Gasse trat jemand, auf jeder Brücke, an jedem Kanalufer stand jemand, der mich an etwas erinnerte. Woran? An mich selber! Ich hielt meine soeben erst neu gekaufte digitale Spiegelreflexkamera behutsam in Händen, solide Mittelklasse. An denen, die da vor mir standen, glaubte ich die gleiche Behutsamkeit zu entdecken, wie man sie neu erworbenen Dingen gegenüber an den Tag legt. Venedig als erster Anwendungsfall für die neue Kamera? Ja, aber doch nicht gleich massenhaft, wollte ich mich schon empören, da entdeckte ich noch mehr Ähnlichkeiten. Sie waren alle ungefähr so alt wie ich, Mitte vierzig, trugen Wetterjacken gegen die Feuchtigkeit, waren also entschlossen, lange draußen zu bleiben und nicht im Vorbeigehen die obligaten Venedig-Bilder zu knipsen. Nein, da war ein beunruhigender Ernst im Spiel, inmitten dessen, was bereits so inflationär betrieben wurde, trotzdem das seltene, das einmalige Bild einzufangen. Woher dieser Glaube? Das sollte ich mich selber fragen. Denn auch ich jage ja hier einem Bild hinterher, das diese längst tot fotografierte Stadt bisher noch nicht preisgegeben hat - obwohl es für jedermann daliegt, nicht verborgen, sondern an der Oberfläche. Aber macht es das einfacher?

Da sage noch jemand, es gäbe keine Utopien mehr! Und sei es in der Gestalt von lauter Doppelgängern auf dem Weg zum Imaginären im Vorfindlichen. Und dann stand wieder jemand vor mir, wieder die gleiche Kamera in Händen, sogar die Baureihe stimmte überein, denn es ist die, die bei einem weltweit operierenden Internethändler derzeit den Platz eins inne hat. Auf Originalität weist hier erst einmal nichts hin.

Wäre es nicht allzu kokett, man könnte von einem »Zug der Steppenwölfe« sprechen, die, statt Hesse zu lesen, sich von ihren Familien eine Woche Urlaub erbeten haben, um das Prinzip »Nicht für Jedermann« noch einmal mit aller - und sei es geborgten - jugendlichen Naivität vor sich zu wissen. Venedig ist ein tausendjähriges magisches Theater! Es funktioniert immer noch nach dem gleichen Muster. Illusion ist alles - und auch der größte Skeptiker braucht für seine Weltverachtung ein sicheres Hinterland.

Die untergehende Insel Venedig? Es ist wie mit den unaufhörlich steigenden Immobilienpreisen und den hektischen Bauarbeiten an allen Ecken der Stadt. Wer investiert, lebt der nicht am längsten? - Das ist die Weltanschauung, vor der die Mittvierziger auf ihren einsamen Fototouren durch Venedig flüchten. Aber auf irgendeine Weise sind sie doch alle darin gefangen. Das vereint sie: Es kann irrsinnig sein, aber noch wollen wir nicht ans Ende denken, noch liegt das meiste vor uns! In Venedig fällt es leichter, sich zu betrügen, weil hier der schöne Schein bewiesen hat, dass er langlebig zu sein vermag.

Plötzlich stand ich direkt vor dem Gefängnis Santa Maria Maggiore - ein bizarres Bild, das da plötzlich im Nebel auftauchte. Anders als das Frauengefängnis vor meiner sommerlichen Terrasse ist dieses hier noch in Betrieb. Hohe Mauern, Wachtürme und mindestens drei deutlich erkennbare Posten mit Maschinenpistolen. Der mir am nächsten oben auf der Mauer postiert war, fixierte mich, wie ich da unschlüssig herumlungerte und meinen Fotoapparat unentschlossen hin und her wandte. Sollte ich ihn fotografieren, wo es doch in Venedig für Fotos eigentlich keine Tabus gibt? Lieber nicht.

Hier spielte sich am 3. August 1944 ein übles Schauspiel ab. Sieben Gefangene wurden vor dem Gefängnis auf Befehl der deutschen Kommandantur vor den Augen hunderter zusammengetriebener Venezianer erschossen. Kinder mussten anschließend das Blut vom Straßenpflaster aufwischen. Eine Vergeltungsaktion für den Tod eines deutschen Marinesoldaten, der in der Nacht zuvor von seinem Posten auf einem Patrouillenboot verschwunden war. Tage später wurde seine Leiche gefunden - jedoch hatten nicht Partisanen ihn getötet, wie sich nun herausstellte, sondern er war betrunken ins Wasser gefallen und ertrunken.

Venedigs Gedächtnis ist übervoll von solchen sinnlosen Grausamkeiten. Daraus erwächst dann jene dunkle Melancholie der Stadt, die einen unerklärlicherweise manchmal sogar mitten im Sommer überfällt.

(Schluss folgt)

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