Vier Millionen Sozialwohnungen fehlen

Während jährlich 100 000 Sozialwohnungen vom Markt verschwinden, kommen nur 30 000 mit Belegungs- und Preisbindung in den Markt

  • Gabriele Oertel
  • Lesedauer: 8 Min.
Peter Ramsauer hat die Wohnungspolitik für sich entdeckt. Per »Bild« forderte er die Länder zu mehr Anstrengungen im sozialen Wohnungsbau für Menschen mit niedrigem Einkommen auf. »Wohnen darf nicht zum Luxus werden«, rief der zuständige Minister hysterisch aus - und wies den Ländern unter Verweis auf die Föderalismusreform die alleinige Verantwortung für steigende Mieten und sträflich vernachlässigte Bautätigkeit im preiswerten Segment zu.

Dass insbesondere in der Politik Angriff die beste Verteidigung ist, weiß Peter Ramsauer nicht erst seit Oktober 2009. Derlei Erfahrung hat der heute 58-jährige Christsoziale, der im Merkel-Kabinett II als Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu neuen Weihen kam, in Jahrzehnten politischer Arbeit von der Pike auf gelernt. Insofern wundert im Nachhinein gar nicht, dass der sich fast drei Jahre ausschließlich als Verkehrsminister verstandene CSU-Politiker Ende Juni plötzlich die Wohnungspolitik für sich entdeckte. Per »Bild« forderte er die Länder zu mehr Anstrengungen im sozialen Wohnungsbau für Menschen mit niedrigem Einkommen auf. »Wohnen darf nicht zum Luxus werden«, rief der zuständige Minister hysterisch aus - und wies den Ländern unter Verweis auf die Föderalismusreform die alleinige Verantwortung für steigende Mieten und sträflich vernachlässigte Bautätigkeit im preiswerten Segment zu. So als wäre die jahrzehntelange Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern zur Unterstützung von Haushalten, »die sich am Markt nicht angemessen mit Wohnraum versorgen können« - und das sind über sieben Millionen Haushalte - aufgekündigt.

So überraschend das plötzliche Interesse des Ministers am 24. Juni auch schien und so sehr offenbar auch in Ländern und Kommunen in den vergangenen Jahren mit dem Thema sträflich umgegangen wurde - Ramsauer wusste freilich, dass mehrere Institute an entsprechenden Studien saßen, auch eine diesbezügliche Anfrage der Linksfraktion muss zu jenem Zeitpunkt schon auf seinem Schreibtisch gelandet sein. Also preschte er vor, um im übertragenen wie tatsächlichen Sinne den Ländern den »schwarzen Peter« überzuhelfen - und möglichst schnell und im zeitlichen Abstand zum bald einsetzenden Bundestagswahlkampf das unliebsame Thema loszuwerden.

Diese Strategie scheint indes nicht aufzugehen. Dafür sind die vom Hannoveraner Pestel-Institut vorgelegten Zahlen zu heftig. Und zu nachhaltig, denn die mit den Jahren zugelassenen Lücken auf den Wohnungsmärkten landauf und landab sind weder in Wochen noch in Monaten zu füllen. Fakt ist: Vier Millionen Sozialwohnungen fehlen, dem aktuellen Bedarf von 5,6 Millionen stehen lediglich 1,6 Millionen verfügbare gegenüber - Tendenz sinkend. Nur jeder fünfte finanzschwache Haushalt hat derzeit überhaupt eine Chance, eine Sozialmietwohnung zu bekommen. Während jährlich 100 000 preiswerte Wohnungen vom Markt verschwinden, werden nur 30 000 mit Preis- und Belegungsbindung in den Markt gebracht, davon 10 000 neugebaute. Um wenigstens den schon geschrumpften Bestand zu halten, so das Pestel-Institut, das von der sogenannten Wohnungsbauinitiative - einem Zusammenschluss mehrerer Bauverbände mit Mieterbund und IG BAU - beauftragt worden war, brauche man jährlich 130 000 neue Wohneinheiten.

Vermutlich hat Ramsauer in den vergangenen drei Wochen darauf gehofft, dass der vom Institut aus Niedersachsen ausgesandte Rauch sich bald verziehen wird. Doch gestern legten die Hannoveraner nach und Zahlenmaterial für jedes einzelne Bundesland vor. Zusammenfassendes Ergebnis: »Die Bedarfsdeckungsquote reicht von knapp drei Prozent im Saarland bis zu über 60 Prozent in Thüringen und Brandenburg. Während Hamburg, Schleswig-Holstein und Bayern noch Deckungsquoten von über 40 Prozent erreichen, liegen die entsprechenden Werte in Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt um 30 Prozent. In Sachsen und Niedersachsen werden etwa ein Fünftel des Bedarfs mit dem Bestand von 2010 gedeckt und in Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen liegt die Quote unter 15 Prozent«, heißt es in der Studie.

Diese Bilanz gereicht weder dem Bundesbauminister noch den jeweils Zuständigen in den Ländern - Bau- und Wohnungsministerien sind dort klammheimlich verschwunden und wurden mehrheitlich zu Abteilungen in größeren Ministerien degradiert - wenig zur Ehre. Und sie wird die schwarz-gelbe Bundesregierung mit Sicherheit in den Wahlkampf begleiten. Zu fürchten steht aber, dass es zu dem von der Wohnungsbauinitiative und dem Institut geforderten »Masterplan für den sozialen Wohnungsbau« bis zum Herbst 2013 nicht mehr kommen wird. Und dann hat das Land schon wieder Zehntausende Sozialwohnungen weniger.

Baden-Württemberg
Eine Chance auf preisgebundenen Wohnraum hat im Ländle nur jeder achte Haushalt mit geringem Einkommen - landesweit fehlen rund 436 000 Sozialwohnungen. Gegenwärtig liegt der Bedarf in Baden-Württemberg bei 501 000, Ende 2010 hat es nach Zahlen des Bundesbauministeriums nur 65 000 gegeben. Jährlich verschwinden zudem mehr als 4800 Sozialwohnungen vom Markt.

Schleswig-Holstein
In Schleswig-Holstein sind derzeit rund 67 000 Sozialwohnungen registriert, deutlich weniger als angesichts der Zahl der ärmeren Haushalte erforderlich. Nach einer Studie des Pestel-Instituts wird der Gesamtbedarf im nördlichsten Bundesland, das rund 1,84 Millionen Einwohner zählt, auf rund 152 000 beziffert. Der Bestand an Sozialwohnungen liegt demnach etwa 85 000 darunter.

Sachsen
Über 6200 Sozialwohnungen verschwinden jährlich im Freistaat vom Markt. Für Menschen mit geringen Einkommen wird es immer schwerer, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Der Bedarf liegt im Freistaat bei rund 425 000, landesweit sind jedoch nur etwa 83 000 Sozialwohnungen auf dem Markt. In Sachsen leben rund 4,1 Millionen Menschen, die Erwerbslosenquote liegt bei 9,5 Prozent.

Hamburg
In Hamburg fehlen ca. 110 000 Sozialwohnungen. Damit hat nur jeder zweite ärmere Haushalt in der Hansestadt überhaupt eine Chance auf gestützten Wohnraum. Derzeit sind in Hamburg mit seinen etwa 1,8 Millionen Einwohnern rund 108 000 Sozialwohnungen registriert, benötigt würden aktuell aber etwa 218 000. Die Erwerbslosenquote lag im August in Hamburg bei 7,4 Prozent.

Berlin
In Berlin hat nur jeder dritte ärmere Haushalt die Chance auf eine Sozialwohnung, und das in einer 3,5-Millionen-Stadt mit einer Erwerbslosenquote von 12,2 Prozent. In der Hauptstadt existieren nur ca. 213 000 Sozialwohnungen, der Bedarf liegt aber bei 641 000, so das Pestel-Institut, das von einer »enormen Lücke« spricht. Pro Jahr verschwinden zudem fast 12 500 Sozialwohnungen vom Markt.

Mecklenburg-Vorpommern
Das Bundesland im Nordosten gehört zu denen im Osten mit der geringsten Deckung des Bedarfs an Sozialwohnungen: Von den nach Angaben des Pestel-Instituts rund 58 000 benötigten waren Ende 2010 nur knapp 7300 verfügbar, derzeit sind es 7000. Mecklenburg-Vorpommern ist das Land mit der vierthöchsten Quote an Hartz-Beziehern, die Erwerbslosigkeit lag im August bei 11 Prozent.

Saarland
Die bundesweit geringste Deckung des Bedarfs an Sozialwohnungen gibt es im Saarland. Dort fehlen nach Angaben des Pestel-Instituts rund 80 000 solcher Wohnungen, lediglich 3000 sind auf dem Markt verfügbar. Für Ende 2010 hatte das Bauministerium sogar nur 2500 Sozialwohnungen angegeben. Zuletzt sind pro Jahr im Saarland etwa 670 davon vom Markt verschwunden.

Hessen
Für die etwa 6,1 Millionen Hessen standen Ende 2010 knapp 128 000 Sozialwohnungen zur Verfügung - gemessen an den Zahlen des Pestel-Instituts liegt der Bestand damit bei nur etwa einem Drittel des Bedarfs von rund 399 000 Sozialwohnungen. In dem Bundesland beziehen derzeit rund 8,3 Prozent der Einwohner Hartz IV, die Erwerbslosenquote lag im August 2012 bei 5,7 Prozent.

Thüringen
In Thüringen werden derzeit etwa 93 000 Sozialwohnungen benötigt. Der Bedarf ist zu über 60 Prozent gedeckt - was dem Freistaat im bundesweiten Vergleich neben Brandenburg einen Spitzenwert sichert. Dennoch wird bezahlbarer Wohnraum auch im Südosten immer knapper, vor allem in den Städten Erfurt, Jena und Weimar. Ende 2010 gab es im Freistaat gut 55 000 Sozialwohnungen.

Nordrhein-Westfalen
An Rhein und Ruhr liegt der Bedarf an Sozialwohnungen bei über 1,7 Millionen. Zur Verfügung stehen nur etwa 500 000. Jährlich verschwinden zudem ca. 46 000 Sozialwohnungen, weil die Frist der Mietpreisbindung ausläuft. Landesbauminister Michael Groschek (SPD) warnte vor »Luxus-Ghettoisierung«: Städte wie Köln oder Düsseldorf benötigten zusätzlichen sozialen Wohnraum.

Niedersachsen
Für Menschen mit geringem Einkommen ist Niedersachsen kein gutes Pflaster: Der Bedarf von rund 436 000 Sozialwohnungen wird nur zu einem Fünftel gedeckt, landesweit fehlen etwa 351 000. Eng ist die Lage vor allem in Ballungsgebieten. Das Sozialministerium kündigte gestern an, noch 2012 die Förderung für den Bau preiswerter Mietwohnungen um 10 auf 49,9 Millionen Euro zu erhöhen.

Sachsen-Anhalt
Sachsen-Anhalt liegt im Ländervergleich bei Erwerbslosen und der Zahl der Hartz-Bezieher stets weit vorn. Der Bestand an Sozialwohnungen hinkt hinter dem Bedarf jedoch weit zurück: Etwa 98 000 würden gebraucht, für Ende 2010 gibt das Bundesbauministerium jedoch nur gut 31 000 an. Nach Angaben des Pestel-Instituts verschwinden zudem pro Jahr fast 6400 Sozialwohnungen vom Markt.

Bayern
In Bayern ist die Zahl der Sozialwohnungen zwischen 2002 und 2010 von gut 270 000 auf 161 000 geschrumpft. Der Bedarf liegt heute jedoch mehr als doppelt so hoch - bei 391 000 Sozialwohnungen. Und die Lage könnte noch dramatischer werden: Berichten zufolge endet allein im Freistaat für 70 000 Sozialwohnungen in den nächsten zwei Jahren die Mietpreis- und Belegungsbindung.

Brandenburg
Im zurzeit rot-rot regierten Brandenburg gab es Ende 2010 nach Angaben des Bundesbauministeriums etwa 39 700 Sozialwohnungen - rund 10 000 mehr als noch Ende 2002. Damit gehört das Bundesland zu den wenigen, die den Bestand in der Vergangenheit ausgebaut haben. Der Bedarf liegt dennoch weit höher: Rund 63 000 Sozialwohnungen würden benötigt, so das Pestel-Institut.

Bremen
In Bremen liegt der Bedarf bei etwa 102 000 Sozialwohnungen, davon waren Ende 2010 nach Zahlen des Bundesbauministeriums aber nur knapp über 10 000 auf dem Markt. Und das in einem der Länder mit den größten sozialen Problemen: Von rund 660 000 Einwohnern sind derzeit 17,8 Prozent Empfänger von Hartz IV, die Erwerbslosenquote lag im August 2012 bei 11,4 Prozent.

Rheinland-Pfalz
In Rheinland-Pfalz fehlen rund 154 000 Sozialwohnungen: Einem Bedarf von rund 216 000 steht eine Zahl von nur 62 000 registrierten Sozialwohnungen gegenüber. Anders als in den meisten Bundesländern ist in Rheinland-Pfalz die Zahl der Sozialwohnungen in den vergangenen Jahren unter dem Strich aber kaum zurückgegangen: 2002 gab es landesweit gut 62 500 Sozialwohnungen.

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