Eigentlich selbstverständlich

  • Stefan Hartmann
  • Lesedauer: 10 Min.
Verliert die Linkspartei ihre stabilste Säule, die bisher noch im Osten steht, wird sie es sehr schwer haben, mehr als eine von vielen kleinen linken Gruppen im ganzen Land zu sein. Eine Antwort auf Erhard Crome
Erhard Crome fährt in seiner Kritik des Briefes der ostdeutschen Landesspitzen an die Parteivorsitzenden schweres Verbalgeschütz auf. Zu finden sind »verquast«, »sprachlicher Missgriff«, »völlig absurd« und, der Klassiker im innerparteilichen Vorwurfswesen, das Schreiben »schade« der LINKEN. Die Liste der vermeintlichen »Parteischädlinge« in der Geschichte linker Parteien ist lang. Zu vielen Zeiten gehörten die, denen vorgeworfen wurde, sie würden der Partei schaden, zu den Mutigsten und Klügsten.

Jenseits der leichtgewichtigen Spitzfindigkeiten Cromes zur Frage, ob es angemessen sei, als »ostdeutsche« Landesspitzen den Brief zu verantworten, bleibt eines offensichtlich: dies ist kein offener Brief. Ciceros »Wem nützt es?« in Bezug darauf aufzuwerfen, dass der Brief in die Öffentlichkeit lanciert wurde, würde sicher einige interessante Spekulationen gedeihen lassen. Solche Debatten sind jedoch in keiner Weise fruchtbar. Wer hat Schuld, wer hat angefangen, wer hat wann und wo zu wem was gesagt – ein endloser Zirkel ohne absehbaren Nutzen.

Die Vorsitzenden der ostdeutschen Landesverbände der LINKEN und die Vorsitzenden der Fraktionen der LINKEN in den Landtagen bzw. im Abgeordnetenhaus haben in ihrem Brief ein Problem auf die Tagesordnung gesetzt, das eigentlich vollkommen selbstverständlich Schwerpunkt der LINKEN ist. Heißt es doch im Programm der Partei »die Vertretung ostdeutscher Interessen (habe) besonderen Stellenwert«. Die stellvertretende Parteivorsitzende S. Wagenknecht jedoch hält die Ost-West-Perspektive für überholt, der Geburtsort spiele keine Rolle mehr. Genau um diesen Dissens geht es in der derzeitigen Debatte.

Gehen wir also der Ost-West-Frage zuerst auf den sozial-ökonomischen Grund. Deshalb eine Reihe von sozialökonomischen Fakten, die beliebig verlängert werden kann. Sicher sind diese für die meisten weder neu noch überraschend. Zugleich würde eine Auswahl einzelner Regionen auch zeigen, dass der Westen nicht das Land ist, in dem für alle Milch und Honig fließen, sondern die Unterschiede erheblich sind. Allerdings ergeben die folgenden Zahlen ein sehr eindeutiges Bild.

Abschläge für Rentner, steigende Mieten

Im Juli 2012 wurde in Ostdeutschland eine Arbeitslosenquote von 10,3 Prozent gemeldet, in den alten Bundesländern eine Quote von 5,9 Prozent. In der Frage der Höhe der Gehälter kehrt sich der ostdeutsche »Vorsprung« um: »Insgesamt fallen die effektiven Bruttoverdienste daher im Osten um 17 Prozent niedriger aus als im Westen.«, so die gewerkschaftsnahe Hans-Boeckler-Stiftung. Wie sieht es im Bereich der Rente aus? Der Informationsdienst Soziale Indikatoren führt aus: »Der Rückgang der Anwartschaften ist bei Männern in den neuen Bundesländern besonders ausgeprägt: Während Männer in den alten Bundesländern und Frauen insgesamt zumindest bis 1998 konstante bzw. steigende Entgeltpunkte verzeichneten, sind die Rentenansprüche der Männer in den neuen Bundesländern seit 1993 gesunken.« Darüber hinaus, als logische Konsequent der Einkommenssituation in den letzten zwanzig Jahren gilt folgendes: »Der Anteil der von Abschlägen betroffenen Neurentner steigt im Untersuchungszeitraum insbesondere in den neuen Bundesländern tendenziell an. Rund 60 Prozent der Neurentner bzw. fast 80 Prozent der Neurentnerinnen in Ostdeutschland sind im Jahr 2008 von rentenmindernden Abschlägen betroffen; in den alten Bundesländern sind es rund 40 Prozent.« Etwas anders ist dies bei den Mieten. Hier ist es so, dass zwischen 1996 und 2006 eine Angleichung stattgefunden hat. Der Datenreport 2008 des Statistischen Bundesamtes zeigt: Im Westen werden 27,9 Prozent, im Osten 26,9 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens für Miete ausgegeben. Die Zeit der relativ geringen Mieten im Osten ist vorbei.

Die hier auf Grund der überdeutlichen Sichtbarkeit nur angedeutete Faktenlage ermöglicht die Aussage, dass die neuen Bundesländer nun seit zwei Jahrzehnten unter Bedingungen existieren, die einer sozialen und ökonomischen Dauerkrisensituation gleichkommen.
Es ist auch nicht absehbar, dass es besser wird. Zu sagen, was ist, sollte auch in der LINKEN angemessen sein. Reale gesellschaftliche Probleme müssen ausgesprochen werden, sie zu verschweigen oder zu ignorieren wäre einer LINKEN unwürdig. Nicht zuletzt deshalb, weil es die Situation der von diesen Problemen betroffenen Menschen ungemein verschlechtert, denn es würde sie unsichtbar machen, vielleicht sogar mundtot!

Identität und Diskriminierung

Für die politische Artikulation der beschriebenen sozial-ökonomischen Probleme, die auf jeder Landkarte als drastische ost-westliche Farbunterschiede sichtbar werden, ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, ob und in welcher Art und Weise sich die Betroffenen damit identifizieren.

Die (wissenschaftliche) Literatur zum Thema »ostdeutsche Identität« ist außerordentlich umfangreich. Für die in der DDR sozialisierten Menschen kann angenommen werden, dass es diese Identität gibt, insbesondere wenn man Dietrich Mühlberg darin folgt, dass die Zweistaatlichkeit »zwei deutsche Kulturen« erzeugt hat. Für die vor uns liegende Zeit wird es von erheblicher Bedeutung sein, inwieweit es der sogenannten »3. Generation Ost« und den darauf folgenden Generationen gelingt, was der Politikwissenschaftler Johannes Staemmler in Bezug auf die Dauerhaftigkeit ostdeutscher Identität formuliert: »Wir wollen genau das Gegenteil: dass dieses Ost-West-Ding endlich aufhört, weil man wirklich miteinander ins Gespräch gekommen ist. Damit das passieren kann, muss man den Osten stärken, den Begriff von seinen vielen negativen Assoziationen befreien. Deshalb kämpfen wir um Begriffe und Interpretationen.«

Die von Staemmler geforderte »Stärkung des Ostens« ist allerdings keine ganz einfache Sache. Weder ökonomisch und sozial noch biographisch. Die Problematik wird für den Bereich der Wissenschaft unverkennbar deutlich in den Worten des Präsidenten der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Pirmin Stekeler-Weithofer: »Die Regel ist, dass ostdeutsche Kollegen in Westdeutschland bei westdeutschen Bewerbungen kaum oder null Chancen haben und in Ostdeutschland wenig. Selbst wenn sie an erster Stelle einer Berufungsliste sind, kann es dann sein, dass jemand interveniert und sagt, das jemand aus Ostdeutschland wollen wir nicht.«

Kein »Ende der Ossis«

Raj Kollmorgen fasst dieses Problem zusammen: »Wo es deutliche soziale Ungleichheiten gibt, ist der Bereich der Aufstiegschancen in unserer Gesellschaft, in der Besetzung von Elitepositionen. Hier sind die Ostdeutschen tatsächlich weiter Bürger zweiter Klasse. Ostdeutsche machen rund 18 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, aber nur etwa 7,5 Prozent der deutschen Elite. (...) Beispiel: Wirtschaft. Kein einziges DAX-Unternehmen wird von einem Ostdeutschen geführt. Nur selten findet sich überhaupt einer im Vorstand. ... Beispiel Wissenschaft. Von bundesweit 88 Hochschulrektoren sind nur drei aus Ostdeutschland. Und bei normalen Professoren ist das Verhältnis nicht viel besser.«

Solche Fakten lassen sich umfänglich weiter aufzählen. Und genau diese soziale Wirklichkeit spricht gegen die an Hand der Spitzenfunktionen von Angela Merkel und Joachim Gauck aufgestellte kühne These der »ZEIT«, »das Ende des Ossis« sei eingetreten. Genauso wenig die Kanzlerschaft von Merkel die Diskriminierung von Frauen oder Obamas Präsidentschaft die Rassendiskriminierung in den USA beseitigt hat, widerlegen einzelne Aufsteiger eine gesellschaftliche Erscheinung. Insbesondere DIE LINKE sollte an dieser Stelle der Versuchung widerstehen, von den sozialen Zusammenhängen abzusehen und der Losung, jeder sei seines Glückes Schmied, aufzusitzen.

Schwächen verschwinden nicht durch Abwarten

Nach 1989 verlor die SED-PDS, später die PDS nach vierzig Jahren Regierungsbeteiligung von ihren weit über zwei Millionen Mitgliedern den allergrößten Teil, ca. 100 000 blieben nach den verschiedenen Austrittswellen noch übrig. Das baldige Verschwinden der PDS als relevanter Teil der politischen Landschaft wurde umfassend behauptet, bewiesen, befördert und herbeigesehnt. Selbst über zehn Jahre später (2002) wurde insbesondere medial aber auch von Politikern anderer Parteien die PDS als politischer Zombie behandelt.

In der Realität fand aber anderes statt. Die Mitglieder der PDS arbeiteten auf allen politischen Ebenen und qualifizierten über viele Jahre ihre Angebote an die BürgerInnen. Die Anfang der 1990er Jahre recht schwächlichen Wahlergebnisse wurden Schritt für Schritt ausgebaut, Rückschläge aufgearbeitet und die Ergebnisse genutzt. Bis zur Bundestagswahl 2005 konnten so Erfahrungen gewonnen werden. Parlamentarisch umfasste diese alle Arten politischer Verantwortung, also Opposition, Tolerieren, Regieren. Im Bereich der Verwaltung der kommunalen Ebene wurden Oberbürgermeister, Dezernenten und mehr gestellt. Aber auch außerparlamentarisch war die PDS keinesfalls unerfahren, vielmehr wurden immer wieder und natürlich mit wechselndem Erfolg Kampagnen, Bürgerbegehren, Demonstrationen, partnerschaftliches Zusammenwirken usw. organisiert und betrieben. Zugleich war die PDS niemals eine monolithische Partei. Der Umgang mit politischer Verschiedenheit wurde, oft mühsam, zu einer Selbstverständlichkeit.

Die Geschichte der PDS so zu erzählen, dass eine heroische Legende des ständigen Gipfelstürmens entsteht, wäre vollkommen unsinnig. Das Scheitern im Bestreben darin, im Westen wenigstens ansatzweise gesellschaftlich ähnliche Bedeutung zu erlangen bleibt trotz der harten Arbeit der GenossInnen in den alten Bundesländern zu konstatieren und auch im Osten ist die Frage der dauerhaften gesellschaftlichen Verankerung nicht endgültig beantwortet. Diese bisher noch stabile Säule unserer Parteiarchitektur ist derzeit eine unverzichtbare Stärke unserer Partei. Sie basiert auf der Fähigkeit, gesellschaftliche Probleme politisch adäquat aufzunehmen. Es ist nicht selbstverständlich, dass dies so bleibt. Jede Stärke muss andauernd erkämpft werden und Schwächen verschwinden nicht durch Abwarten. Verzichten wir, wie von Sahra Wagenknecht vorgeschlagen, auf die politische Thematisierung des sozial-ökonomischen Gegensatzes zwischen Ost und West, werden wir die gesellschaftliche Verankerung in den neuen Ländern unmittelbar verlieren. Von einer solchen Entwicklung könnte sich DIE LINKE nur schwer erholen.

Bis heute ist kein anderes, neues »Erfolgsrezept« sichtbar geworden, wie eine demokratisch-sozialistische Partei dauerhaft erfolgreich sein kann. Daher wäre es keine sehr schlaue Sache, das alte Rezept wegzuwerfen.

Weder Ost-Partei noch untergebutterte Ost-Ideen

DIE LINKE ist eine neue Partei. Erst mit ihrem Entstehen existiert wieder eine gesamtdeutsch relevante linke politische Kraft. Daran haben alle Mitglieder ihren Anteil.
Die wichtigste Voraussetzung für den weiteren erfolgreichen Aufbau unserer Partei und damit für die Durchsetzung unserer politischen Ziele besteht darin, dass wir die gesellschaftlichen Verhältnisse soweit es möglich ist korrekt analysieren. Neben vielen anderen Aspekten gehört der soziale und ökonomische Graben, der die neuen Bundesländer von den alten trennt, zu dieser Wirklichkeit. Vor der Existenz von Differenzen auf dem Gebiet der Kultur, der Tradierungen, der Wertvorstellungen, die auch und wesentlich entlang einer Linie Ost-West beschrieben werden kann, die Augen zu verschließen, wäre für eine gute Analyse nicht hilfreich.

Der Erfolg der vormaligen PDS und der jetzigen LINKEN in den neuen Bundesländern ist nur verstehbar, wenn begriffen wird, dass er aus konkreten gesellschaftlichen Problemlagen heraus erzielt wurde durch eine Politik, die sich darauf bezieht und versucht, glaubwürdige und kompetente Antworten zu geben. Dementsprechend ist die Erfolgsgeschichte »Ost« durchaus für die gesamte Partei wichtig und kann Orientierung dafür geben, wie DIE LINKE dauerhaft in der bundesdeutschen Gesellschaft verankert werden kann. Dies kann, wie alles andere, aber nur gelingen, wenn gegenseitige Anerkennung und Beteiligung gewährleistet sind. Dafür darf dieses Thema nicht zu einem Kampffeld um Macht und Herrschaft verwandelt und missbraucht werden. Die gesellschaftliche Diskriminierung und Schlechterstellung von Menschen mit ostdeutschem Geburtsort und ostdeutscher Biographie darf genauso wenig Platz in der LINKEN haben, wie die Ignoranz oder Diffamierung der in den letzten zwei Jahrzehnten gewonnenen politischen Erfahrungen.

Leider ist das nicht selbstverständlich. Insbesondere in Vorbereitung der vor uns stehenden Bundestagswahlen steht nun die Herausforderung vor uns, deutlich zu machen, dass wir weder eine »Ost-Partei« sind, noch eine, in der wie an so vielen anderen Orten, Ostdeutsche und ihre Ideen und Konzepte untergebuttert werden. Der immer noch weite Weg zu einer fairen Vereinigung der bundesdeutschen Gesellschaft widerspiegelt sich auch in unserer Partei, die selbstverständlich Teil dieser Gesellschaft ist. Verliert DIE LINKE ihre stabilste Säule, die bisher noch im Osten steht, wird sie es sehr schwer haben, mehr als eine von vielen kleinen linken Gruppen im ganzen Land zu sein. Die Gefahr besteht. Deshalb lassen sich die daraus folgenden Aufgaben nicht vertagen.

Stefan Hartmann ist stellvertretender Landesvorsitzender LINKEN in Sachsen und Mitglied des Parteivorstands

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