Amerika ins Licht gerückt

Musikfest Berlin: Ives, Feldman, Eisler, Copland, Bernstein

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Amerikaner jagt den anderen. Alles Tote. Unvergessene. Das Musikfest gedenkt ihrer, indem es ihren Ruhm in neues Licht stellt. In das Licht der Berliner Öffentlichkeit, unter die Saallampen, vor die Glühbirnen der Notenpulte. Jede Partitur, die zur Aufführung kommt, hat ihre eigene Helligkeit, wenngleich manche Stelle dunkel, erschöpft wirkt. Das Festival, Inkarnation einer Utopie (Künstlerische Leitung: Winrich Hopp), geht schon seinem Ende entgegen. Kein bisschen Wechselspannungsschwund, kaum geringere Elektrisierung der Sinnesorgane. Die Philharmonie, in der sich das Meiste abspielt, singt und swingt bisweilen. Auf Amerikanisch.

Im Zeichen von American New England musiziert das London Symphony Orchestra, geleitet von Michael Tilson Thomas. Mann, der auf die Siebzig zugeht. Erfahren, agil, besonnen, dem keine Neue Musik fremd ist, der elanvoll noch die monumentalen Partituren mit seinen Musikern klar in den Raum setzt, der sich nicht zu edel dünkt, das Publikum direkt anzusprechen, mit sympathischen erklärenden Worten zur Musik vorweg.

Schweres Gerät kommt mit den »Orchestral Variations« von Aaron Copland (1900-1990), Komponist, der sich im Zwiespalt wohlfühlte, einerseits mit neuem Material zu experimentieren, andererseits es seinem Publikum irgend recht zu machen. Seine Variationen zeichnen gleichsam die industriell-technischen Metamorphosen in Nordamerika nach. Donnernd die Konjunktur dieser in Segmente effektvoll aufgespaltenen Musik. Sie ist durchgängig homophon angelegt. Unentwegter Wechsel der Rhythmen.

Jäh dazu im Gegensatz »Piano and Orchestra« von Morton Feldman (1926-1987). Das Stück kultiviert wie viele seiner Arbeiten die Leisheit, die Gedehntheit, lässt den Klängen gehörig Luft, seine Mikrowelt führt nach Innen. Notorisch unterbeschäftigt Emanuel Ax am Klavier. Ihm zur Seite ein zweites Klavier, Celesta, melodiebildendes Schlagzeug, die allesamt mehr zu tun haben als er. Rar sind Tuttikomplexe. Das Stück spart aus, lässt - gähnende - Lücken. Meist in tiefer Lage: Einzeltöne, dauernd währende Sekund-rückungen, Pause, immer mal plötzlich hohe Haltetöne der Streicher, Pause, blechernes Rasseln, bald nasale wie gespitzte Holzbläserakkorde, Pause, gestopftes Blech. Die Musik, obwohl sie das espressivo nicht will, scheint zu weinen.

»A Symphony: New England Holidays« für Orchester mit obligatem Klavier und Chor von Charles Ives (1874-1954) steht brutal dagegen. Monumentales Gebilde in vier mächtigen Sätzen mit dem hymnischen chorischen Schluss, gesungen vom Ernst Senff Chor Berlin. Der 3. Satz, »The Fourth of July«, verflucht kompliziert umzusetzen, ein Subdirigent muss helfen, schachtelt verschiedene Marschcharaktere ineinander zu einer wildwüchsigen Kakophonie. Musik, klar schauend, auch wenn der Himmel zuzieht.

Nicht minder hochstehend, ja geradezu beglückend der Abend unter der Überschrift »Hanns Eisler in Amerika« mit dem exzellenten Pellegrini Quartett, dem Pianisten und Eisler-Kenner Christoph Keller, der Flötistin Andrea Kollé und dem Klarinettisten Heinrich Mätzener. Wieder eine Mixtur, um Eisler herum Ives, Copland, Ruth Crawford-Seeger. Keller spielt solo die »Three-Page Sonata« von Ives, im ersten Satz etwas unsicher vom Blatt, im letzten, »Allegro (March time)«, um so tollkühner auswendig.

Nachdenklich stimmt die 1937 auf einer Bahnfahrt nach Prag komponierte »Reisesonate« für Violine und Klavier. Das ruhelose, nervöse Zwölftonstück bringt den Violinisten (Antonio Pellegrini) strukturell des öfteren in ziemlich unbequeme Lagen. Ob da wohl emotive Probleme des angehenden US-Exilanten mit durchschimmern? Eislers Streichquartett aus dem gleichen Jahr erblühte aufs Wunderbarste unter der Hand der Pellegrinis, und genauso seine meisterhaften »Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben« (1941), Schönberg zugedacht, eine Wiedergabe, so ausgefeilt und reich an Nuancen, wie sie vielleicht alle Jubeljahre mal kommt.

Der Große Saal der Philharmonie mutiert zur Big Band Hall. Dirigent Ingo Metzmacher und die Philharmoniker verbildlichen con fuoco die »Cuban Overture« des jung gestorbenen großen Amerikaners George Gershwin (1898- 1937). Ein Drive überträgt sich, entzündet das volle Haus, rutscht direkt in die Hirne, die Glieder, die Fingerspitzen, die Gesäße, die Zungen, die Lippen. Metzmacher hüpft wie die gestriegelte Junghenne, knallt die Dirigierpeitsche auf den Arsch der Musiker wie der Reiter die seine auf den Pferdearsch, damit sie ihr Letztes geben. Cuba-Rhythmen blitzen auf im Gewitter der Instrumente, Farben recken sich zu Rhythmen, Percussionseffekte rasen durch die Instrumente und knallen zwischen den Fingern der Akteure.

Ein Feuerwerk, das sich gemildert fortsetzt in der »A Jazz Symphonie« des George Antheil (1900-1959) und glanzvoll ausufert in den »Symphonischen Tänzen aus der West Side Story« (Fassung 1955) des begnadeten Leonard Bernstein. Die Philharmoniker, hochgelaunt, bringen diese raffiniert zusammengesetzte und instrumentierte Suite erstmals in ihrer Geschichte zu Gehör. Wie selbstverständlich. So, dass Leute fast von ihren Sitzen springen.

Das eigentliche Erlebnis des Abends aber: Charles Ives 4. Sinfonie, sie kommt vor der Pause, riesig besetzt, Orchester, Chor, Orgel, Orchesterklavier, Vierteltonklavier, zwei Fernorchestergruppen. Fantastisch ihre Wiedergabe durch die Philharmoniker. Im Allegretto hilft wiederum der Subdrigent, dass das kolossale, ausufernde, vor Marsch- und Ragtimeklängen berstende Gefüge nicht zerbricht. Der Senff Chor setzt ins Finale die Spiritualität »Näher, mein Gott zu Dir« so hinein, als würde er ein zärtlich Wiegenlied singen. Groß.

Gleich bedeutungsvoll die sich anschließende »Late Night« mit dem unvergleichlichen Pianisten Pierre Laurent Aimard und zwei Begleitern (Viola und Flöte). Aimard spielt Ives' Klaviersonate Nr. 2 »Concord, Mass., 1840-60« erwartungsgemäß sicher, konzentriert. Man merkt über die Dauer fast einer Stunde: Er verehrt dieses Werk und dessen Schöpfer über die Maßen. Das Wort Sonate geht fehl. Die Musik umgreift eine Gebirgskette, entrollt diese über alle Klüfte, Täler, Wiesen, Abgründe hinweg. Jeder der vier Sätze »beschreibt« Persönlichkeiten, die auf Ives nachhaltig gewirkt haben, darunter Emerson und Thoreau.

Totenruhe, während Aimard die Tasten betätigt (auch ein Clusterbrett hat er zur Hand). Jedes Räuspern verbietet sich. Die Musik endet in Stille, langer Stille. Affiziert von der enormen Gewalt dieser Musik (nicht zu verwechseln mit Boxkämpfen), gehen die Leute gelöst und erlöst ab.

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