Schostakowitschs Welt

Staatskapelle und Konzerthaus Berlin erinnern an den Dirigenten Kurt Sanderling, der heute 100 geworden wäre

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 3 Min.

Zehn Tage Marathon für Kurt Sanderling im Konzerthaus, weil der nun hundert wäre. Dergleichen gab es wohl in Berlin nur bei Karajan. Sofort die Frage, was denn geboten würde. Nur Zeugs aus alten Tagen? Das Ewige, das immer kommt? Aussparend das Gegenwärtige? Das würde dem Meister sicher nicht entsprechen, obwohl der auf Tradition pochte und das irritierende, verstörende Neue lieber anderen überließ. Allein, Sanderlings dauerhafter Umgang mit den Sinfonien Schostakowitschs ist bleibendes Verdienst und sein große Vermächtnis. Das Sinfonieorchester der Philharmonie Charkow, bei dem der junge Sanderling angefangen hat zu dirigieren, wird immerhin die »Sechste« des Russen bringen. Vieles, was sonst geboten wird, ist von gestern - für Ohren von heute. Was bekanntlich ungeheuer spannend sein kann, wenn die Leier nicht ewig und immerfort ginge und die Ohren unverbraucht blieben.

Andere Wege ging die Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim. Sie bestritt eine Matinee für Sanderling. Mit Werken von Max Bruch, Elliot Carter und Anton Bruckner und mit der jüdischen Cellistin Alisa Weilerstein. Die junge Frau hat sich wahrscheinlich das »Kol Nidrei« von Bruch gewünscht, ein Adagio für Violoncello und Orchester nach hebräischen Melodien, das sie voller Innigkeit wiedergab. Das Orchester setzte nur sanfte Begleitakkorde, was die Langeweile verstärkte. Mit Elliott Carters »Cello Concerto« kam ein durchaus modernes Werk. Sein Ablauf ließ der Solistin erstaunlich viel Raum. Die Tutti und Gruppen geben Stützen, bauen Fachwerke, Baukästen, worin sich das Soloinstrument teils kräftig ausagieren kann. Zum Ende hin gewinnt die orchestrale Mobilität an Fahrt und das Cello avanciert zum wirklichen Kontrahenten.

Daniel Barenboim sagt im Programmheft, er habe viele Dirigenten verehrt, aber wenige mit so viel Zuneigung. »Ich werde nie eine Probe der 15. Sinfonie von Schostakowitsch mit den Berliner Philharmonikern vergessen. Schostakowitschs Welt war mir bis dahin verschlossen geblieben, aber als Kurt Sanderling diese Sinfonie probierte, hat er mich überzeugt, dass dies die größte Musik überhaupt ist, die je geschrieben wurde: So intensiv, so detailliert, so wunderbar war es.«

Und beinahe so hat Barenboim mit seiner Staatskapelle die 9. Sinfonie in drei Sätzen (der 4. Satz blieb unvollendet) von Bruckner musiziert. Die Aufführung geriet fantastisch. Die riesenhaften Ecksätze erblühten regelrecht, als würden Naturprozesse aufrauschen. Da rührt sich anfangs Leisestes, Zärtliches, steigt ganz allmählich wie eine träge Schar Monde aus dichten Wolkenfeldern in Höhen auf, um sich droben wohlig wiederum eine genau kalkulierte Zeit lang zu tummeln, ahnend schon Gewitter, die im gewitzt ausgerechneten Moment losbrechen. Worauf das romantisch Riesenhafte zusammenstürzt, endend in gähnender Fermate, auf dass Neues sich sammeln und entfalten kann. Und erst das hypermobile Scherzo, knapp gefasst, wo eine Sechstongruppe den Sechsachteltakt mechanisch ausfüllt und böskomisch sich auslebt, als führe der Deibel persönlich die Harke im Irrgarten des Anton Bruckner.

Endloser Beifall. Barenboim im Licht. Kaum noch ein Gedanke an Kurt Sanderling.

Kurt Sanderling, am 19.9.1912 im ostpreußischen Arys geboren, war seit 1931 Korrepetitor an der Städtischen Oper Berlin. 1933 aus »rassischen Gründen« entlassen, engagiert er sich künstlerisch im »Jüdischen Kulturbund«, bevor er 1939 nach Moskau emigriert. Debüt als Dirigent beim Moskauer Rundfunk, ab 1940 Chefdirigent der Charkower und ab 1942 Dirigent der Leningrader Philharmoniker. 1943 erste Begegnung mit Dmitri Schostakowitsch, für dessen Werk er sich zeitlebens einsetzt. 1960 kommt Sanderling in die DDR und wird zum Chefdirigenten des Berliner Sinfonie-Orchesters (BSO) berufen, ab 1967 ist er auch Chefdirigent der Dresdner Staatskapelle. Nach freiwilligem Rücktritt von seinen Positionen beim BSO ab 1977 zahlreiche Gastdirigate mit renommierten internationalen Orchestern. Sanderling starb am 18.9.2011 in Berlin, einen Tag vor seinem 99. Geburtstag.

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