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Aufwachsen im Krisengebiet

Fototagebücher einer »Kindheit in Israel« im Berliner Büro der SOS-Kinderdörfer

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie sind Leuchtfeuer der Humanität in einer zunehmend inhumaner werdenden Welt: die SOS-Kinderdörfer, wie sie Hermann Gmeiner mit der ersten Einrichtung 1949 in Tirol für Kinder gegründet hat, die durch den Krieg zu Waisen geworden waren. Seither ist die Erde nicht eben friedlicher. Kriege, Katastrophen, Armut, häusliche Gewalt treffen die Jüngsten besonders schwer, machen sie hilflos. Doch Gmeiners Idee bietet einigen von ihnen neue Hoffnung. In 133 Ländern leben in 533 Kinderdörfern über 70 000 Kinder und Jugendliche, werden rund um die Uhr betreut, wachsen in ein häusliches Milieu hinein, wie sie es daheim nie erlebt haben. Weitere SOS-Hilfsprogramme beziehen gar insgesamt rund zwei Millionen Kinder und deren Angehörige ein. Wenn ehemalige Kinderdörfler Berufsausbildung oder Studium abschließen, ist das ein großer Tag für Gmeiners Initiative und die Aktivität seiner Nachfolger.

Dass auch vergleichsweise wohlhabende Länder wie Israel solche SOS-Kinderdörfer brauchen, mag erstaunen, ist jedoch auch der politischen Situation in dieser Region und den resultierenden Spannungen innerhalb mancher Familien geschuldet. So leben heut im Kinderdorf Neradim, was »Zyperblumen mit Narden« bedeutet, 120 Kinder und ihre Familien, im Megadim, »edle Früchte«, dem anderen Kinderdorf, 100 Kinder. Wie aber leben sie dort? Das zeigt eine ungewöhnliche Fotoausstellung im Berliner Büro des Hermann-Gmeiner-Fonds.

Im April 2011 durften rund 100 Kinder zwischen 6 und 16 mit Einwegkameras ihren Lebensalltag in Fotos einfangen. Dicht bei dicht füllen sie nun eine ganze Wand: wie sie sehnsüchtig in einer Blumenrabatte hocken, Ball spielen, Wäsche in den Schrank räumen, auf der Schaukel fliegen, sich in der Umarmung gegenseitig Geborgenheit geben, mit der »Mutter« am Tisch sitzen. Schlichte Schlafecken sieht man und die karge Landschaft rings um das Dorf; einer zeigt stolz ein Fahrrad, andere halten verschämt die Hand vor die Augen. Ein farbiger Junge blickt sehr ernst im Profil. Denn was den meisten zuvor widerfahren ist, bleibt lange ein Trauma. Misshandelt wurden sie zu Hause, von psychisch kranken Eltern nach der Scheidung einfach weggegeben; sie stotterten bei Eintritt ins Dorf, waren inkontinent, voller Ängste. Aleksei, dessen Mutter einfach ohne ihn nach Russland heimkehrte, wird sogar das Abitur machen. Wie viel Erfolg ein Lachen dieser Kinder bedeutet, ist kaum zu ermessen.

Der zweite Teil jenes berührenden Projekts lag in den Händen des 1976 in Potsdam geborenen, am Lette Verein ausgebildeten, in Berlin lebenden und weltweit agierenden Fotografen Stephan Pramme. Pose und Umfeld stellte er seinen jungen Fotomodellen frei, hielt sie so im Bild fest, wie sie selbst es wünschten. Breitbeinig steht der kleine Fußballer vor der Zimmertür, das »Italia« auf dem Shirt weist wohl auf das bewunderte Team hin. Sein etwas älterer Kollege lehnt wie schutzsuchend in einer Schrankecke; zwischen zwei Betten und unter großem Plüschtier sitzt, die Arme verschränkt, ein Junge, schaut noch unsicher in die Linse. Gefasst, sichtlich gezeichnet posiert ein anderer neben Sportwimpeln mit hebräischer Aufschrift in Shorts und Kapuzenjacke. Ein dritter lässt sich unbeholfen vorm riesigen Poster eines Wasserfalls im Aufenthaltsraum konterfeien, als wollte er sein privates Reich nicht preisgeben. Die Mädchen sind offener, hocken, liegen in ihrem Bett, um sich Regale mit Büchern und viele comichaft bunte Collagen mit der Traumwelt, die sie sich geschaffen haben. Ein junger Mann, eine junge Frau haben die Uniform der israelischen Armee als Kleidung gewählt, Bekenntnis und Zeichen einer Zugehörigkeit. Wie selbstbewusst sie die Beine kreuzt, in die Kamera blickt, ist positiv und macht doch ebenso betroffen.

Der dritte Ausstellungsteil bezieht demonstrativ jene ein, die auch zum Staat Israel und dort zu den Ärmsten zählen: Familien muslimischen Glaubens. Es sind die Kinder aus dem Beduinendorf Kaabiya, wo sie eine SOS-Tagesstätte besuchen, die sich für den Fototermin fein gemacht haben, mit rosafarbenem Volant-Kleid, die aber auch verängstigt ausschauen, sich daheim auf der Lehne der besten Sessel postieren, in einem Mix aus Misstrauen und Cleverness scheinsicher aufstellen. Und Mädchen, wie sie unterm Kopftuch hervorlächeln. Auch sie sind wichtiger Teil einer »Kindheit in Israel«, dies der umgreifende Ausstellungstitel.

Bis 31.10., Mo.-Fr. 10-17 Uhr, Büro SOS-Kinderdörfer, Gierkezeile 38, Telefon (030) 345 06 99 70

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