Die Flut hat Spuren hinterlassen. Sichtbar sind sie noch am Scheitel der Frau: schlohweiß nachgewachsen das Haar, das in ihrer Jugend dunkel war, doch schon früh wie bei ihrer Mutter erbleichte, so dass sie es mit Henna färbte. Seit der Flut stand ihr nicht der Sinn danach, und ihr fehlte wohl auch die Zeit: Wie Blitze gezackt schlägt das Weiß vom Ansatz nun ein ins knallige Purpurrot, das schlicht in einem Pferdeschwanz endet, der wiederum - wenn sie spricht, sich bewegt - auf einem bequemen weiten Pullover mit zu langen Ärmeln pendelt...
Ja, Dr. Nora Goldenbogen, 53 Jahre alt und vor zwölf Jahren noch Lehrerin an der Bezirksparteischule Dresden, sieht aus wie ein bunter Hund. Bunt und abgedreht wie die Neustadt, quasi Dresdens Prenzlauer Berg, wo sie seit zehn Jahren arbeitet. »Im Viertel gibts 140 Kneipen«, beschreibt sie die Neustädter Republik, »und viele alternative Vereine.« Auch HATiKVA hat sich hier angesiedelt. Gleich neben dem Alten Jüdischen Friedhof, in einem Haus, das zum Abriss stand, der Birne dann aber doch entging - sie fühlt sich in dem Viertel heimisch: »Leute mit meiner Biografie waren damals nirgends willkommen, hier wurde ich aufgenommen. Hier gab es Räume, hier gab es die Chance, weitab von irgendwelchen Zwängen noch einmal anfangen zu können.«
Leute mit meiner Biografie - ein Satz der DDR-Eliten. Das ist sympathisch an Nora Goldenbogen: wie offen sie darüber spricht, wie ehrlich sie sich selbst begegnet. Nur wenige Menschen können das, egal, wo und wann sie leben. Die Frau, deren Tochter nach der Wende zu Hause plötzlich als Punk aufkreuzte, sie damit erst einmal »schockierte«, der das Erschrecken jedoch verging, weil sie lernte, »ganz anders hinzugucken und Leute anders zu betrachten, als ich es vorher getan hatte«, entwaffnet mit ernsthaften Antworten: »Ich hatte Geschichte studiert. Nur als Lehrerin zu unterrichten, hätte mir nicht ausgereicht, ich wollte forschen, und die Schule bot mir diese Möglichkeit. Ich hätte es besser wissen müssen - diese Enge, dieses Korsett, ich war ja schon dort zum Lehrgang gewesen. Aber ich dachte: Machst du eben deins - es funktionierte nicht, es war falsch.«
HATiKVA ist ein hebräisches Wort. »Ha« steht für »die« und »Tikva« für Hoffnung. Als Dr. Nora Goldenbogen 1992 begann, beim Aufbau der Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur in der Dresdener Neustadt zu helfen, war die Hoffnung auch eine persönliche. Zugleich eine allgemeinere, in die Gesellschaft zielende: »Wir wollten einen Ort schaffen, an dem wir Lücken schließen können. Wissenslücken über das Judentum, die Vorurteile reproduzieren, und wir wollten Berührungsängste, übertriebene Vorsicht abbauen.« Ist sie...? Aber klar, sie heißt Nora! »Ich bin Jüdin«, sagt sie und lächelt.
Wann hat sie ihr Judentum entdeckt? Nach dem Ende der DDR? Wie so mancher andere, der fand, dass sich das nicht schlecht ausnähme? Leute mit meiner Biografie: Auch wenn die ihre heute oft auf die Parteischule reduziert wird, begonnen hat sie damit nicht. Sie begann auch nicht 49, wie die Geburtsurkunde ausweist, sondern schon 1933 in der schönen Stadt Paris. Damals lernten sich an der Seine der politische Emigrant Hellmut Tulatz und die vor den Lebensverhältnissen in Rumänien geflüchtete Jüdin Annette Kaiser kennen. Nachdem beide im Sommer 35 zusammen nach Dresden gereist waren, wo das Aufgebot, das sie bestellen wollten, nicht mehr angenommen worden war, heirateten sie in Bukarest - drei Tage nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze. 43 denunziert, befahl man Hellmut nach Berlin, wo man ihn verhaftete und ins Gestapo-Gefängnis steckte. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat und der Ehe mit Annette brachte man ihn ins KZ Sachsenhausen, Rückkehr unerwünscht, so der Vermerk - was der Gang der Geschichte verhinderte. 46, im zerstörten Dresden, trat Annette Tulatz, geborene Kaiser, der Jüdischen Gemeinde bei. Dort ließ sie auch Tochter Nora eintragen, als die 49 zur Welt kam. »Mein Elternhaus war antifaschistisch, nicht religiös«, erinnert sie sich, »doch meine Identität ist jüdisch - wo ich herkomme, was ich mag: die Lieder, die Sprache und das Essen.« Nora Goldenbogen, geborene Tulatz, spricht kein Jiddisch, doch hört es sehr gern. Sie hört gern Jalda Rebling singen. Sie liebt Matze zu Pessach, gefüllten Fisch, Auberginenmus mit Knoblauch und gebratene Leber mit Zwiebeln: »Alles, was es bei den Großeltern gab. Ein Stück Heimat, das ich nie wegräumte.«
Jüdin sein in der DDR - eine zuweilen absurde Geschichte. 1984 füllte Nora Goldenbogen ihren Aufnahmefragebogen für die Bezirksparteischule aus. Beim Punkt Religionszugehörigkeit schrieb sie wahrheitsgemäß: jüdisch. Es habe Diskussionen gegeben, in denen ihr nahe gelegt worden sei, aus der Gemeinde auszutreten. Ihr Nein musste sie begründen. Die Stellungnahme - siehe oben - ging bis zum Zentralkomitee, wo man »die Sache« ruhen ließ und eine Ausnahmeregelung schuf...
Nora Goldenbogen erzählt das, damit wir verstehen können, wie schizophren die Situation war: Die DDR war nicht antisemitisch, aber man sollte nicht Jude sein. Und die Wissenslücken, von denen sie sprach, sind nicht nur Lücken der neuen Gesellschaft. »In der DDR haben wir jüdische Kultur und Geschichte lediglich selektiv vermittelt. Genau wie Wissen über die Sorben oder über das Christentum.« Das habe sie immer furchtbar geärgert: »Man sieht ein schönes, altes Gemälde und versteht seine Sprache nicht, weil einem die Symbolik fremd ist!« Natürlich, Verfolgung und Vernichtung der Juden seien stets Themen gewesen, auch in fantastischen Büchern und Filmen, »aber was Judentum noch ausmacht, hat kaum eine Rolle gespielt. Jede Kultur und jede Geschichte außer der des Klassenkampfes haben wir einfach nivelliert.«
Sie sagt »wir« - das schenkt sie sich nicht. Sie war Teil der Allmacht und Teil ihres Scheiterns. Dr. Nora Goldenbogen hat etwa drei Jahre gebraucht, um mit dem Zusammenbruch ihrer politischen Utopien, der »völligen Veränderung« ihrer Umwelt zurechtzukommen. Dass sie bereits begonnen hatte, über »Juden in Sachsen nach 45«, also auch über die Säuberungen in den 50er Jahren zu arbeiten, war »heilsam« und hat ihr den Abschied erleichtert. Genau wie die Arbeit bei HATiKVA. Goldenbogen macht sich nichts vor: Wer nicht die Chance hatte weiterzumachen, neue Aufgaben zu finden, der konnte sich mit seiner Trauer, seinem Schmerz, seiner Scham, seiner Demütigung, seiner Bitterkeit, seiner von Tag zu Tag wieder heller leuchtenden Erinnerung nur einigeln. Sie hatte verdammtes Glück, sie weiß es. Andererseits, wen interessiert es? Wen interessiert Nora Goldenbogen? Wen interessiert, was sie heute treibt? Wen interessiert jüdisches Leben?
Auf dem Tisch hat sie Publikationen von HATiKVA zurechtgelegt: »Der Alte Jüdische Friedhof in Dresden«, »Stadtrundgänge zum jüdischen Leben«, »Zwischen Integration und Vernichtung«, »Hygiene und Judentum«, um nur einige zu nennen. Gerade habe der Verein eine Wanderausstellung eröffnet, für Schulen und Jugendprojekte. Sie heißt »Juden in Sachsen«, und Goldenbogen, auch heute noch leidenschaftliche Historikerin, resümiert aus dem Stand das Wesentliche: Juden siedelten sich in Sachsen vor etwa 1000 Jahren an. Die erste bekannte Judenordnung stammt von 1265. Es existierten keine Gettos. Anfang des 16. Jahrhunderts verbot Sachsen Juden den Aufenthalt, wodurch die Gemeinden eingingen. Um 1700 ernannte August der Starke seine ersten Hofjuden, was den Neubeginn einleitete. 1837 wurden die erste jüdische Gemeinde wieder zugelassen. Erst 1867 durften sich überall im Land wieder Juden ansiedeln. Während der Weimarer Republik lebten hier 22000 Juden als geachtete Mitglieder der Gesellschaft. Ab 1933 setzte der Isolationsprozess ein, zum Zentrum jüdischen Lebens in Dresden wurde fortan die Synagoge mit Schule und Ausreisestelle. Eben diese Synagoge wurde niedergebrannt in der Nacht vom neunten zum zehnten November 38. Die ersten Deportationen erfolgten 1942 nach Riga, in der Folge gingen sieben Transporte aus Dresden nach Theresienstadt sowie ein Transport nach Auschwitz. Der letzte Transport nach Theresienstadt am 13. Februar 45 fiel wegen der Fliegerangriffe aus... Und, und, und - wen interessiert es?
Daniel Ristau interessiert es. Der junge Mann sitzt an diesem Vormittag allein im Sitzungsraum von HATiKVA und füttert seinen Laptop mit Daten aus der Kaiserzeit. Die Vereinsräumlichkeiten sind eng und auch von der Anzahl her begrenzt, so dass er sich immer dort einrichtet, wo gerade ein Arbeitsplatz frei ist. Ristau, 22 Jahre, studiert Geschichte und Politikwissenschaften, hier absolviert er ein Praktikum. Freiwillig, »weil ich es wichtig finde, den Leuten, die heute leben, zu sagen, was damals passierte - man vergisst das ja so schnell.«
Und Dresdner Schüler interessiert es. Zumindest möchte das der Lehrplan: Im Fach Ethik, beim Stichwort Weltreligionen, sowie in Geschichte, beim Themenkomplex Nationalsozialismus/Antisemitismus, sollen sie sich Kenntnisse über das Judentum aneignen. »Für Lehrer der Stadt und des ländlichen Umlands sind wir eine feste Adresse«, sagt Goldenbogen und erzählt, dass allein im letzten Jahr 3500 Kinder und Jugendliche bei HATiKVA die Schulbank drückten oder Projekttage durchführten. »Bei einigen spürt man echtes Interesse«, versichert sie, um gleich einzuschränken, schon so junge Menschen hätten vorgefasste Meinungen. Die verbreitetsten Vorurteile: Alle Juden seien reich, seien überdurchschnittlich schlau und am Aussehen zu erkennen... Mit Fakten, Kipas und koscherer Küche gegen tief verwurzelte Einwände?
Die Hoffnung - sie ist bescheiden geworden. Sie greift nicht mehr hoffärtig nach der Welt, sie ist zufrieden, wenn sie diesen oder jenen Kopf erhellt. Tropfen auf den heißen Stein - das Leben in der Nische ist schwer. Leichter, glaubt Goldenbogen heute, ist nichts, überhaupt nichts zu verändern. Anderthalb feste Vereinsstellen, zwei ABM, eine SAM - und Jahr für Jahr aufs Neue feilschen. Dafür ehrenamtliche Mitarbeiter, zwei Dutzend fast, die sich gern einbringen und ohne die nichts möglich wäre. Nicht die Vorträge, Seminare, die historischen Stadtrundgänge, nicht die Lesungen, Filmvorführungen, Konzerte mit berühmten Künstlern, nicht die Ausstellungen, Diskussionen, die Foren, Forschungen, Publikationen, Betreuung von Belegarbeiten...
Nahezu 50000 Besucher nutzten bisher die Möglichkeiten, die HATiKVA ihnen bietet, um sich mit den Ursachen des Antisemitismus zu beschäftigen. Mit dieser Zahl rüstet sich Goldenbogen nicht nur für den Kampf mit den Behörden, mit dieser Zahl panzert sie auch ihre Seele. Steter Tropfen höhlt den Stein. »Es ist wichtig, was man macht, und ich bin innerlich zufrieden.« Obwohl wie die Hoffnung auch das Wir, zu dem sie vor der Wende gehörte, auf ein reales Maß geschrumpft ist. In der PDS ist sie noch, weil die Partei - wie Matze zu Pessach und gebratene Leber mit Zwiebeln - ein Stück Heimat für sie ist. Und wir wissen bereits, dass sie Heimat nicht aufgibt. Aber der Wahleinbruch ihrer Partei hat sie doch nicht mehr erschüttert, geschweige denn aus der Bahn geschleudert. Mit neustädtisch-republikanischem Blick sieht Nora Goldenbogen längst, »dass Linke heute andere Ideen als früher entwickeln müssen. Und ob die PDS das kann« - sie hebt die Brauen -, »das weiß ich nicht.« Ihr Tonfall sagt deutlich: Sie glaubt es nicht. Es gibt Alternativen, zum Beispiel Attac... So gesehen, ist das Wir, dem sie sich zugehörig fühlt, nicht enger, sondern weiter geworden. »Die Dresdner PDS«, sagt sie, »hat unser Thema nie unterstützt. Sie hat es immer nur benutzt.« Benutzen lassen will sie sich nicht mehr.
Doch wer wollte das je, sich benutzen lassen? Hoffen wir nicht stets, dass wir es irgendwie in der Hand hätten? Bis wir merken, es hat ja uns in der Hand, im Würgegriff, dem wir nicht mehr entrinnen? Ein Raum, in dem sich Goldenbogen gern aufhält, ist die Bibliothek. Es riecht nach Papier, Leim und Wissen: 10000 Bände hat der Verein mit den Jahren zusammengetragen, ein Schatz - ganz zart streicht ihre Hand über einen Buchrücken. Wissen, vielleicht die einzige Chance gegen die Versuchung zu glauben, sich scheinbar sicher einzurichten. Die Bände sind gut sortiert. Rubriken wie Lyrik, Belletristik, Geschichte des Judentums in Deutschland, Rassentheorie, Rassismus, Antisemitismus, Prozesse, Verhältnis Islam - Judentum, Verhältnis Christentum - Judentum, Konzentrations- und Vernichtungslager, Juden in der DDR, Israel/Nahost, Zionismus...
Dass das Hochwasser vom Sommer die Neustadt und so diesen Schatz verschonte, darüber ist Goldenbogen heilfroh. Unversehrt blieb glücklicherweise auch der Alte Jüdische Friedhof, »einer der schönsten, den ich kenne, ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch«. Ebenfalls fast ohne Schaden zu nehmen überstand die neuerbaute Synagoge im Zentrum die Flut, die Führungen können weitergehen. Gut so, nur »ddp-Goldenbogen«, den kleinen Familienverlag, den sie gemeinsam mit ihrem Mann, einem Physiker, aufgebaut hat, traf die Katastrophe mit voller Wucht. Das ganze Lager stand unter Wasser, alles futsch, 10000 Bände! Nora Goldenbogen schluckt: Die Soforthilfe konnte maximal vierzig Prozent des Schadens decken.
Menschen wie Goldenbogen, wünscht man, hätten ihr Glas an Leid geleert. Doch das Leben schenkt nach, ohne Rücksicht zu nehmen. Die Hoffnung will immer ein glückliches Ende. Das gibt es nicht, es gibt kein Ende, und schon gar kein glückliches. Darüber wird sie alt und grau, manchmal stirbt sie, wächst wieder nach, schütter, schwächer, Wahnsinn blitzt auf... Die Hoffnung, vielleicht müssen wir sie uns wie Goldenbogens Scheitel vorstellen.
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