Wahrscheinlich dachten Sie wie ich, Naturschutz habe mit Vögeln, Käfern, Gewässern und seltenen Pflanzen zu tun. Irrtum! Naturschutz hat vor allem mit Gesetzen, Verordnungen, Richtlinien, Verfahren, Anträgen, Ministerien, Ämtern, Klagen, Schriftsätzen und mit sehr viel Kies zu tun. Sinnt man ein wenig darüber nach, hätte man selbst darauf kommen können. Schließlich muss die Natur ja nicht vor der Natur geschützt werden, sondern vor merkantilen Interessen.
Zunächst geht es aber doch um die Hummel. Und um so exotische Dinge wie Krimlinden, Tagfalter, Sandregenpfeifer, Windelschnecken, Beutelmeisen, Seeadler, Salz-Hornklee und Deutsches Filzkraut. Heike Munse hockt sich auf den Boden, um mitten im kalten Dezember ein Exemplar dieses Krauts zu finden, das in der politischen Landschaft bekanntlich flächendeckend wuchert, auf Wiesen aber äußerst rar ist. Tatsächlich kommt das Deutsche Filzkraut nur noch in Mecklenburg-Vorpommern vor, und auch dort nur noch sehr spärlich. Da! Heike Munse kann es uns zeigen: ein kleines, sprödes, stolzes Gewächs, einer Distel nicht unähnlich.
Nun ist Heike Munse keineswegs studierte Botanikerin. Die 38-Jährige, die im Ruhrgebiet aufwuchs und vor drei Jahren mit ihrem Ostberliner Freund Frank Balzer nach Rügen zog, arbeitet als Schulpsychologin. Sie nahm in Kauf, dass ihr kleines Haus an der Neuendorfer Wiek eine Bruchbude war und laut Kontostand vermutlich auch nie ein Palast werden wird - der Blick hinaus, die Spaziergänge entschädigen sie dafür reichlich. Heike Munse weiß diese Landschaft zu schätzen. All die Bäume und Kräuter und Gräser und Vögel gehören ganz einfach dazu, sie musste sie nicht benennen können. Das muss sie erst, seit Gefahr im Verzug ist. Das Deutsche Filzkraut - sie nennt es flott beim latainischen Namen Filago vulgaris - ist zur Hoffnung einer Region geworden.
Denn es geht auch um Heike Munse und um all die anderen, die in diesem Landstrich leben oder sich hier erholen möchten. Es ist der Landstrich jenseits der Bäder. Das Refugium der einsamen Wanderer, der stillen Radfahrer, schweigsamen Angler. Die Zuflucht derer, die Ruhe, Besinnung und unberührte Natur suchen - hier haben sie sie bisher gefunden. Wie der Berliner Hartmut Kamin. Er ist Konstrukteur und kein Schriftsteller. Wäre er Schriftsteller, könnte er diese Landschaft in Worte kleiden. So sagt er nur: »Stellen Sie sich ans Ufer, seien Sie still und schauen Sie!« Das machen wir; die Wintersonne schlägt sich auf die Seite der Liebhaber: Sie schüttet Silber über die Wiek, die postkartenblau in der Tiefe schimmert, lässt den Schilfgürtel korngelb leuchten, die Wasservögel weiß aufglänzen, den Seeadler die Schwingen ausbreiten, die Hunde durch das Gras preschen, das sich lebensfroh im Wind wiegt...
Kamin hat sich vor zweieinhalb Jahren ein Häuschen in Neuenkirchen gekauft, dort verlebt er die Wochenenden. Und dort will er das Alter genießen, mit 60 plant man solche Dinge. Er möchte seine späten Jahre in einer »harmonischen Umgebung mit zufriedenen Nachbarn« verbringen. Er weiß, dass auf Rügen in vielen Familien nur noch einer Arbeit hat, »sie haben das Letzte zusammengekratzt, um wenigstens die Ferienwohnung für Gäste auf Westniveau zu bringen. Die Menschen hier leben vom Tourismus. Wenn keiner mehr kommt, weil die Landschaft kaputt ist, wäre das für sie verheerend«.
Heike Munse und Hartmut Kamin gehören zur Bürgerinitiative, die gegen den geplanten Kiesabbau im Gebiet Trent-Zessin mobil macht. Die Heidelberger Baustoffwerke, eine hundertprozentige Tochter der HeidelbergCement AG, wollen hier insgesamt 4,4 Millionen Tonnen Kies gewinnen. Das Abbaugebiet direkt an der Wiek betrüge etwa 19 Hektar. Bei 200000 Tonnen pro Jahr würde sich die Abbauzeit über 22 Jahre erstrecken. 22 Jahre lang würden im Fünfzehn-Minuten-Takt Laster über die Allee zwischen Neuenkirchen und Silenz donnern. Eine Allee, unversehrt und geschlossen, Teil des deutschen Alleenverbunds, deren - noch - kerngesunde Bäume zwischen 80 und 100 Jahre alt sind. »Wir sind zu spät aufgewacht«, sagt Heike Munse, »wir dachten, wir kriegen ein Kiesgrübchen. Als wir die Dimension erahnten, war vieles schon in Sack und Tüten.«
Was ist passiert? Genau das, glaubt Kamin, was typisch war für die Nachwendezeit: In den neuen Ländern wurde Investoren unkritisch, um fast jeden Preis der Weg geebnet, ohne dass man deren Vorhaben auf Nachhaltigkeit geprüft hätte. Man könnte klarere Worte finden, doch die Munses und Kamins halten sich in diesem Punkt zurück: HeidelbergCement gehört zu den drei mächtigsten Baustoffkonzernen der Welt, und wenn David gegen Goliath antritt, darf er keine Angriffsfläche bieten. Immerhin sagt Hartmut Kamin: »Ich erkenne beim besten Willen nicht, dass das Bergamt objektiv ist.«
Eine Chronologie der Vorgänge: Schon 1991 war das Bergrecht für den Kies an der Neuendorfer Wiek durch die Treuhand verkauft worden. An einen Privatunternehmer, der das Schnäppchen kurz darauf an Neuper Beton, heute Heidelberger Baustoffwerke, veräußerte. Schnäppchen deshalb, weil bis 96 altes DDR-Bergrecht galt, nach dem mit dem Abbaurecht nicht zugleich Grund und Boden gekauft werden mussten. Allerdings bedeutete der Erwerb des Bodenschatzes keine Abbaugenehmigung. Der Käufer trug das Risiko, dass die zuständigen Behörden auch negativ entscheiden könnten.
Dies geschah 1995, als das Amt für Raumordnung den Kiesabbau bei Zessin ablehnte. Alle Träger öffentlicher Belange hatten sich gegen die wirtschaftliche Ausbeutung dieses Raumes erklärt, dessen Unterschutzstellung als Naturschutzgebiet 92 geplant, doch nicht realisiert worden war - die damalige CDU-Regierung hatte die Ratifizierung des unterschriftsreifen Entwurfs verhindert.
1997 beantragte die Betreiberfirma erneut eine Abbaugenehmigung. Dieses Mal jedoch beim Bergamt, einer via Grundgesetz mit besonderen, übergreifenden Rechten ausgestatteten Behörde. Obwohl in der Anhörung zum Planfeststellungsverfahren die Gemeinde Neuenkirchen, der Landkreis Rügen, das Raumordnungsamt, das Geologische Landesamt und das Amt für Landwirtschaft, die Forstdirektion, GRÜNE LIGA, BUND und NABU den Abbau ablehnten, arbeitete das Bergamt weiter auf dessen Genehmigung hin.
Versuchen wir, es kürzer zu fassen, denn bürokratische Vorgänge fördern nicht gerade das Lesevergnügen, und das Hickhack ist ein unendliches. Schier unendlich die Ignoranz der Bergbehörde in Stralsund, die dem Wirtschaftsministerium Mecklenburg-Vorpommerns untersteht, schier unendlich aber auch der Kampf der Bürgerinitiative. So erzählt die Geschichte zugleich von der demokratischen Chance, sich einzumischen. Von einer Kultur des Widerstands, die für Gerald Malaschnitschenko wie für die meisten Neubundesbürger immer noch relativ neu ist. Auch Malaschnitschenko, ein Thüringer, der sich vor 23 Jahren unter die Insulaner mischte und auf der Insel hängen blieb, ist Mitglied der Bürgerinitiative. Früher, zu DDR-Zeiten, glaubt er, hätte er sich nicht gewehrt. Dann fügt er überzeugt hinzu: »So eine riesige Kiesgrube hätte es damals auch nicht gegeben. Hier wurde immer schon Kies abgebaut, in kleinen Gruben, in kleinen Mengen, da wuchs dann wieder Gras drüber.«
1998 legte der Anwalt Peter Kremer, der ausschließlich Umweltverbände und Betroffene vertritt, für den BUND Beschwerde bei der Europäischen Union ein: Im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens sei keine Verträglichkeitsprüfung nach FFH-Kriterien erfolgt (Flora-Fauna-Habitat-Richtlinien), was europäisches Recht verletze. Inzwischen erhielt er Signale aus Brüssel, »dass man die Sache dort sehr ernst nimmt«. Das könnte die Bundesrepublik, korrekt gesagt: den Steuerzahler, mehrere Millionen kosten. Ebenfalls über Peter Kremer wurde dem Bergamt ein Gutachten zur avifaunistischen Bedeutung der Neuendorfer Wiek und der Insel Beuchel sowie zu den Auswirkungen auf die Vogelwelt vorgelegt. »Ohne Anwalt läuft überhaupt nichts. Man hat nicht den Überblick«, sagt Heike Munse, die dankbar ist, dass der BUND sie unterstützt: »Er nahm uns die Last von den Schultern. Wir hätten sie nicht tragen können.
Auf Grund der vielfältigen Bedenken sah sich die Landesregierung genötigt, per Kabinettsbeschluss zu verfügen, vor einer abschließenden Entscheidung im Planfeststellungsverfahren die Verträglichkeit des Abbaus nach FFH-Kriterien zu prüfen. Diese Prüfung blockierte ein Gutachten der Heidelberger Baustoffwerke, das die Schutzwürdigkeit des Raumes bestritt - Hartmut Kamin schüttelt den Kopf: »Der Investor bezahlt das Gutachten. Ist so ein Gutachten unabhängig?«
Zu anderen Ergebnissen gelangte die Fachgruppe Geobotanik des NABU in ihrer Expertise: Sie wies im vom Abbau bedrohten Gebiet 24 Arten nach, die in Mecklenburg-Vorpommern auf der Roten Liste stehen, darunter das Deutsche Filzkraut. Von den 243 höheren Pflanzen, die auf der Abbaufläche wachsen, gelten zehn Prozent als gefährdet. Eine weitere Expertise der Universität Greifswald kam zu dem Schluss, dass das Abbaugebiet die Kriterien für ein FHH-Gebiet, also für ein Schutzgebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung erfüllt.
Ende 99 erteilte das Bergamt die Abbaugenehmigung. Das Amt wird seine Gründe haben. Gerd Lange, Pressesprecher des Wirtschaftsministeriums, bittet, sie zu berücksichtigen. Mit seiner Entscheidung sichere das Bergamt die Versorgung Rügens mit Kies für die nächsten 20 Jahre, anders sei der Bedarf nicht zu decken. Allein 400000 Tonnen bräuchte die zweite Rügenanbindung Sassnitz/Mukran für Autoverkehr - wenn man die per Lkw über den Rügendamm anfahren müsste, sei das ja auch nicht sehr umweltverträglich. Ein weiteres Argument des Bergamts: Ein wirtschaftlicher Aufschwung Rügens sei entscheidend abhängig von der Baustoffindustrie.
Wenn Hartmut Kamin das hört, wird er sauer. Ob auf der Insel Hotels gebaut werden, hängt doch nicht vom Kiespreis ab, sondern davon, wie sich der Tourismus entwickelt! Und ob Rügen eine Autobahn braucht, darüber könnte man auch noch streiten. Nicht zu streiten sei über die Behauptung, der Kiesbedarf der Insel könne nur mit dem Abbau in Trent-Zessin gedeckt werden: »Das ist falsch«, sagt Kamin, »das stimmt nicht.« Er stützt sich auf eine Untersuchung der Greifswalder Universtität: Sie führt aus, dass die auf Rügen vorhandenen Kiese den Bedarf von 20 Jahren weit übersteigen - auch ohne den geplanten Abbau. Und für die benötigte Körnung könnte die Konkurrenzfirma Müsing in Mukran die Kieslager entsprechend brechen. Dieses Gutachten hält Jürgen Haase, Leiter für Rohstoffsicherung und Grundstücksgewinnung beim Investor, zu »100 Prozent für inkompetent«. Die grobkörnigen Kiesvorkommen, die zur Betonherstellung taugen, seien auf zwei Jahre begrenzt und würden durch Brechung ja nur noch feiner: »An der Abbaustelle Zirkow kratzen wir schon die letzten Krümel zusammen«.
Besagtes Gutachten, das Jürgen Haase wie auch das Wirtschaftsministerium in Schwerin zurückweisen, rechnet außerdem detailliert vor, dass Kiesabbau in Trent-Zessin volkswirtschaftlich sogar schädlich wäre - die Gewinne des Investors stünden im ungesunden Verhältnis zu den Kosten, die der Landkreis oder das Land zu tragen hätten: Die Kreisstraße 5 müsste ausgebaut, die Allee würde zerstört, die Landwirtschaft hätte Ertragsausfälle, der Tourismus würde verhindert, etwa 50 bis 75 Arbeitsplätze fielen weg, wobei nur fünf neue geschaffen würden, was Sozialkosten nach sich zöge...
Es ist erstaunlich, was ein paar Bürger bewegen, die sich mit den Medien verbünden. Die Initiative, die mittlerweile auf 15 Hartnäckige geschrumpft ist, »weil sich alles schon zu lange hinzieht«, hat es geschafft, einen regelrechten Polittourismus zu erzwingen. Der Wirtschaftsminister war an der Wiek, und auch Umweltminister Methling. Wolfgang Methling (PDS) stellte vier Tage, nachdem das Bergamt den Abbau genehmigt hatte, große Teile des Abbaugebietes spontan vorläufig unter Schutz. Die »Neuendorfer Wiek« wurde als Teil des FFH-Gebietes »Nordrügensche Boddenlandschaft« auf die offizielle Vorschlagsliste des Umweltministeriums gesetzt. Teile des Abbaugebietes freilich wurden aus der Schutzzone ausgegliedert. »Es war nur die kleine Kampfansage an das Wirtschaftsministerium«, kommentiert Heike Munse den Vorgang. Methling: »Ich bin gegen den Abbau. Doch wir entscheiden ausschließlich nach naturschutzrechtlichen Grundsätzen, und nicht danach, wie uns der Sinn steht.«
Im Dezember 99 erhoben der Landkreis Rügen und die Gemeinde Neuenkirchen, später auch die Umweltverbände Klage gegen den Bergamtsbeschluss. Sprecher Lange: »Jetzt liegt alles beim Gericht.« Mancher fürchtet, dass Bergrecht Naturschutzrecht bricht. »Das ist Unsinn«, sagt Anwalt Kremer, »richtig ist: Wir leben im Rechtsstaat.«
Im Rechtsstaat leben bedeutet auch: Dr. Michael Rademacher von der HeidelbergCement prüft derzeit die Verbandsexpertisen auf wissenschaftliche Korrektheit. Dass ein Baustoffkonzern Biologen beschäftigt, mag verschiedene Gründe haben, auf jeden Fall ist es ein Tribut an wachsendes Umweltbewusstsein. Michael Rademacher nun zieht die wissenschaftliche Aussagekraft der Untersuchungen in Zweifel. Nicht ausgewiesen sei die Erhebungsmethode, die flächenscharfe Abgrenzung fehle. Zum Beispiel das Filago vulgaris: Es komme vor allem in Boddennähe, also auf jenem Streifen vor, den der Abbau ausspare. Abgebaut würde auf Ackerbrachen, die übrigens auch nicht wie behauptet Brutgebiete des Seeadlers seien, »der fliegt dort bestenfalls mal drüber«. Sensibel müsse man dagegen mit der Brandseeschwalbe umgehen: Es werde einen Lärmschutz geben, mittels eines Saugbaggers könne der Lärm aber gleichmäßig und niedrigschwellig gehalten werden. Und »Gras« wachse später auch wieder drüber - das Gebiet würde renaturiert; gerade in solchen Gebieten würden sich wieder seltene Arten ansiedeln.
BUND und NABU versuchen zur Zeit, große Teile des Schutzgebietes mit Hilfe von Spenden zu kaufen, um ihre Position zu stärken. Hartmut Kamin meint: »Egal, wie es ausgeht, wir kämpfen weiter, bis wir gewinnen. Wir laden die Aufsichtsräte der Deutschen Bank und der Dresdner Bank, die zu den Großaktionären der HeidelbergCement gehören, gern ein, damit sie sich umsehen und auf das Unternehmen einwirken können. Das gibt sich ja gern umweltbewusst. Doch hier bei uns geht es über Gräser, und das ist nicht gut fürs Image.«
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