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Echter Schmerz und falsche Scheiße
Skandalregisseurin Florentina Holzinger meldet sich mit »A year without summer« an der Berliner Volksbühne zurück
Florentina Holzinger ist zurück mit einer neuen Produktion an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Holzingers gefeierte Performances sind der heiße Scheiß auf den Theaterbühnen Europas. Wenn jemand gerade ein neues, junges Publikum in die Säle zieht, dann ist sie es. Jede und jeder muss wohl mindestens einmal gesehen haben, was sie der Zuschauerschaft vorsetzt. Um einen Skandal jedenfalls ist sie nie verlegen: Sex und Blut, laut und grell, das ist die inszenatorische Strategie.
Auch »A year without summer« unterläuft von der ersten Szene an alle Erwartungen: Da tritt eine Performerin auf die Bühne – und ist vollständig bekleidet. Bald treten ein gutes Dutzend weiterer Frauen hinzu, auch sie allesamt angezogen. Dabei weiß jeder, ob eingefleischter Fan oder Theaterbesucher mit jungfräulichem Blick: Wer eine Karte für einen Holzinger-Abend ergattert – schwer genug! –, der darf auch zwei Stunden nackte Körper beschauen.
Dieses Mal geht es behutsam zur Sache. Zunächst wird uns die konstruierte Rahmenhandlung vorgestellt. Erinnert wird an das Jahr 1816, das titelgebende »Jahr ohne Sommer« also, als ein Vulkanausbruch den Himmel verfinsterte. Die kalten Monate zur Jahresmitte verbrachte die gerade 18 Jahre alte Mary Shelley am Genfersee. Dort suchte man Gemeinschaft in unwirtlichen Zeiten. Mit Gruselgeschichten hielt man sich bei Laune. Es entstand, so jedenfalls der Mythos, die Idee zu Shelleys Roman über Doktor Frankenstein und das von ihm geschaffene Monster, diesen »modernen Prometheus«.
Und nun, so will es die szenische Anordnung für diesen Abend, stellen wir uns vor, das Jahr 2025 würde zu einem ohne Sommer. Sind wir zu gemeinschaftsstiftenden Maßnahmen, wie sie Shelley und andere unternahmen, überhaupt imstande? Welche Gruselgeschichten unterhalten uns, wie sieht Frankensteins Monster zwei Jahrhunderte später aus?
Die Performerinnen finden auf der Bühne zusammen, tanzen, schmiegen sich aneinander. Es dauert nicht lange und der vertraute Anblick nackter Körper auf der Bühne zeigt sich uns wieder. Alles wie immer auf dem Planeten Holzinger. Dann wird geleckt und gefingert, gestoßen und gerieben, emphatisch nach Partnerinnen gesucht oder begierig beobachtet. Keine Eile dominiert das Geschehen. Die Szene zieht sich in die Länge, und bald glaubt man, nun aber wirklich alles gesehen zu haben.
Auch der Horror à la Frankenstein stellt sich bald ein. Holzinger hat ihrer neuen Nummernrevue die Form eines Musicals verpasst. Alles voll und ganz ironisch, klar. Aber da muss das Publikum jetzt trotzdem durch. Es wird fleißig geträllert und getanzt, das genretypische Lächeln gibt’s dazu. Letztlich macht sie damit zum Prinzip, wie sie ihre letzte abendfüllende Inszenierung »Sancta« bereits beschlossen hatte.
Und sonst? Eine übergroße luftgefüllte Puppe, Gustave Courbets Modell für sein berühmtes Gemälde »Der Ursprung der Welt« nachempfunden, nimmt die Bühne ein. Aus ihrem Schritt heraus stürmen die Darstellerinnen zurück auf die Szene. Geschichten aus dem eigenen Leben werden erzählt. Nahtod, Medikamente, Krankheit sind die Themen. Joseph Mengele tritt in einen theatralen Wettstreit mit dem Naturforscher Georges Cuvier, einem der Vordenker der Rassentheorien. Eine Schleimschlacht wird gezeigt. Blut darf nicht fehlen, natürlich in Großaufnahme. Eine Performerin wird live in Brauen und Wangen gepierct und alsbald an diesen Piercings durch die Luft emporgehoben. Und es wird auch einmal niedlich: Eine Gruppe von Roboterhündchen führt ein Tänzchen auf.
Der Höhepunkt des Spektakels beginnt allerdings im Krankenhaus. Die älteren Darstellerinnen erfahren hier ihre medizinische Versorgung. Die Windeln, die ihnen umgelegt werden, sind schnell gefüllt. Kunstscheiße, eine alte Zutat aus Holzingers Arbeiten, kommt hier ausgiebig zum Einsatz. Dieses Mal wurde, dem Geruch nach zu urteilen, Brot genutzt. Ging gerade noch alles in die Windel, so läuft die Scheiße bald überall und aus jedem Arsch. Die Kloschüsseln laufen wortwörtlich über. Über den Schauwert solcher Darbietungen darf sich freuen, wer es kann. Nicht nur ein wenig infantil kommen die fontänenartigen Ergüsse daher.
In einer denkwürdigen Szene begegnen wir Sigmund Freud, diesem alten weißen Mann, der von Holzinger und ihrer Crew theatral erledigt wird. In seiner grotesken Darstellung den Nazi-Arzt Mengele überbietend, wird er uns als lachhafter Frauenfeind vorgestellt. Da muss nur einmal das Wort »Penisneid« auf der Bühne gesprochen werden, und die Lacher im Publikum sind eine sichere Sache.
Dabei sind Holzingers Arbeiten eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit Trauma, Schmerz und Verdrängung, dem Ringen mit dem Unbewussten, dem Geschlechterkampf. Aber sie will ihre Inszenierungen, die sie als feministische Kunst begreift, nicht in die Nähe Freuds gerückt wissen. Ihr Feminismus braucht kein theoretisches Fundament, scheint sie uns zu sagen. Und so präsentiert sie uns immer aufs Neue Seelenentblößungen, zeigt Wunden und will doch an etwas glauben, das Freud nicht einfach so für möglich gehalten hat: an Heilung. Heilung durch Selbstermächtigung wird uns geboten; sie wirkt wie eine schöne Lüge, die wir vom Theater aus Mary Shelleys Jahrhundert kennen.
Wer die letzten großen Arbeiten von Florentina Holzinger gesehen hat, der konnte gespannt sein, wie es weitergehen würde. Nackte Körper, offene Wunden, immer mehr Bühnenmittel, immer schrillere Töne. Wie lange soll und kann sich so etwas fortsetzen? Ist Holzinger, die derzeit vielleicht angesagteste Theaterregisseurin, ein Opfer ihrer eigenen Rolle, gefangen in Erwartungen und Gegenerwartungen?
Mit »A year without summer« findet sie trotz aller Kontinuitäten in der Wahl der Mittel bereits einen anderen Zugang. Das Tempo ist sichtlich gedrosselt, was die Spannung nicht mindert, sondern im Gegenteil verstärkt. Die irre Überwältigungsdramaturgie der letzten Produktionen, in denen auf jede spektakuläre Nummer eine Steigerung folgen musste, ist aufgehoben. Holzinger zeigt noch mal, was sie wirklich beherrscht: ganze große Bilder auf die Bühne bringen, Szenen arrangieren.
Mit Florentina Holzinger, so wurde oft genug der Eindruck erweckt, ist der Punk zurück im Theater. Keine Angst vor schlechtem Geschmack, bösen Wörtern, nackten Körpern. Aber der Schein trügt. Hinter der Punk-Attitüde steckt jede Menge harmoniebedürftiges Hippietum. Schon zuvor sammelte sie auf der Bühne Geld für Bäumchen oder sang queere Messen. Ihr Theater ist immer auch eine Mischung aus Zirkus, Pornokino und Pfadfinderlager.
Dieses Mal trifft ihre Kritik auf Doktor Frankensteins neueste Monster. Sicher nicht zu Unrecht. Und dann wird harmonieselig die Einheit von Leben und Tod besungen. Am Ende steht bei ihr immer der Frieden mit allem. Empowerment als Bewusstseinsarbeit ist ihr genug. »Der Tod ist ein Irrtum«, hatte Heiner Müller einmal postuliert, aber auch er ist nur ein alter weißer Mann.
Nächste Vorstellungen: 24., 25.5. und 7.6.
www.volksbuehne.berlin
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