Frische Nordsee-Shrimps - geschält in Marokko

Lohndumping und Verbrauchertäuschung dank radioaktiver Bestrahlung

  • Victoria Walter, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.
Wer zu Silvester frische Nordsee-Krabben auf den Tisch zu bringen glaubt, kann sich schwer getäuscht haben. In vielen Fällen sind die vermeintlich frischen Shrimps nicht nur etliche Wochen alt, sondern haben zwei lange Seereisen hinter sich.
Nach dem Fang in Holland oder Belgien werden die Shrimps häufig zum Schälen nach Marokko verschifft, weil Arbeitskräfte dort zu einem Spottpreis zu haben sind. Das Geheimnis ihrer Frische beruht auf der Bestrahlung mit radioaktiven Gamma-Strahlen - ein umstrittenes, aber in fünf EU-Staaten zugelassenes Konservierungsverfahren. Auch Frosch-Schenkel aus Frankreich, Knoblauch aus Italien oder die legendären britischen Chips werden so »strahlend« frisch gehalten. Belgien, mit der längsten Liste zur Bestrahlung zugelassener Lebensmittel, erlaubt dies gar für tiefgekühltes Geflügelfleisch und frische Erdbeeren.
In Deutschland und den meisten anderen EU-Staaten ist die Lebensmittelbestrahlung weitgehend verboten. Nach einer EU-Richtlinie von 1999 dürfen nur getrocknete aromatische Kräuter und Gewürze auf diese Weise behandelt werden. Doch in vielen EU-Staaten sind immer wieder illegal bestrahlte Lebensmittel entdeckt worden, wie auch die Untersuchung der britischen Regierung vom Juni 2002 belegt: 42 Prozent der getesteten Lebensmittel (58 von 138) waren bestrahlt oder enthielten bestrahlte Bestandteile.

»Strahlendes« seit 1953
Doch selbst in Großbritannien ist nicht alles erlaubt - keines dieser Produkte war dort zum Verkauf zugelassen. In den meisten EU-Staaten sind die Kontrollen allerdings lasch bis gar nicht vorhanden, und so kann niemand seine Hand ins Feuer legen, dass bestrahlte Produkte nicht auch in Deutschland in den Handel gelangen.
Die kommerzielle Nutzung der Lebensmittelbestrahlung wurde erstmals im Rahmen des 1953 eingeleiteten Programms »Atome für den Frieden« des damaligen USA-Präsidenten Eisenhower gefördert. Seinerzeit wurde die Wiederverwendung von radioaktivem Abfall und Nebenprodukten aus dem Atomenergieprogramm als nützlich erachtet. Spätere Studien über die Auswirkungen des Verzehrs bestrahlter Lebensmittel auf die menschliche Gesundheit ließen jedoch ernsthafte Zweifel aufkommen. Zahlreiche Staaten haben die Bestrahlung oder den Handel mit bestrahlten Lebensmitteln verboten, andere haben sie zugelassen.
In der EU gibt es nur eine Minimal-Regelung und viele gegensätzliche nationale Vorschriften. Die Auseinandersetzung über das umstrittene Verfahren ist in vollem Gange. Trotz massiver Lobby-Arbeit der Hersteller von Bestrahlungsanlagen hat sich die EU-Kommission allerdings nur äußerst vorsichtig an das heiße Eisen herangetastet. In einem Weißbuch stellt Verbraucherschutzkommissar David Byrne vorerst drei mögliche Varianten für eine erweiterte europäische Gemeinschafts-Gesetzgebung zur Diskussion, um den heutigen Flickenteppich unterschiedlicher nationaler Regelungen zu beseitigen. Die erste Möglichkeit wäre die Beibehaltung der bisherigen Beschränkungen auf Kräuter und Gewürze. Zweitens wird eine Ausweitung auf wenige Lebensmittel mit problematischen Hygienebedingungen wie Frosch-Schenkel oder besagte Shrimps angeregt. Variante drei wäre die gemeinschaftsweite Zulassung aller in einzelstaatlichen Regelungen zur Bestrahlung freigegebenen Lebensmittel.
Als erster Gesetzgeber hat sich das EU-Parlament nach kontroverser Debatte gegen eine solche Ausweitung der umstrittenen Technologie ausgesprochen. Grundlage der Abstimmung war ein Bericht der grünen Europa-Abgeordneten Hiltrud Breyer, die anhand zahlreicher Fakten eindringlich vor den Risiken der Lebensmittel-Bestrahlung gewarnt hatte.

Mit »Gamma« nicht steril
Damit würden dem Verbraucher Produkte als »frisch« verkauft, die unter natürlichen Umständen längst verdorben und ungenießbar wären. Die Bestrahlung sei eine »Notlösung zur Überwindung von Hygieneproblemen« bei der industriellen Erzeugung von Lebensmitteln, sie könne aber auch helfen, schlechte hygienische Praktiken zu verdecken und Qualität vorzutäuschen. Denn die Bestrahlung mache Lebensmittel nicht steril. Etliche Sporen und Toxine, die von Bakterien produziert werden, seien auch danach zu finden. So könnten verseuchte Meeresfrüchte gesundheitsgefährdend sein, selbst wenn sie äußerlich frisch wirken.
Gleichzeitig bestehe Anlass zur Sorge, da in bestrahlten Lebensmitteln radiolytische Produkte (Cyclobutanone) entstehen. Diese könnten krebserregende und erbgutverändernde Auswirkungen haben. Breyer beruft sich auf erste Ergebnisse einer erst vor kurzem in Karlsruhe im Rahmen des Internationalen Projekts im Bereich der Lebensmittelbestrahlung durchgeführten Studie. Diese legen nahe, dass die Cyclobutanone die DNA schädigen und verweisen auf derartige Schäden in Zellen von Ratten und menschlichen Zellen.
Der CDU-Europa-Abgeordnete Horst Schnellhardt warf der grünen Verbraucherschützerin trotz dieser Fakten Populismus und ungerechtfertigte Angstmache vor. Wider besseren Wissens behauptete er, dass die Bestrahlung »in den meisten EU-Mitgliedstaaten durchaus übliche Praxis« sei. Schnellhardt, dessen Fraktion geschlossen gegen Breyer gestimmt hatte, setzte sich für eine »Flexibilisierung« und eine Ausweitung der Bestrahlungsliste ein. Durch das Votum des Europäischen Parlaments, wetterte er, sei »eine Verbesserung des völlig zu Unrecht nur negativ besetzten Rufes bestrahlter Lebensmittel verhindert« worden. Dabei wurde die »Bestrahlungsliste« nicht einmal endgültig geschlossen. Doch die EU-Kommission wurde aufgefordert, selbige »nur unter strengsten Bedingungen« zu erweitern, was immer das heißen mag. Die Auseinandersetzung ist damit nicht zu Ende und wird im EU-Ministerrat unter den 15 Mitgliedstaaten in eine weitere Runde gehen.
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