Für eine kurdische Familie endete vor einer Woche ein Kirchenasyl im Kloster der Dominikanerinnen von Bethanien im niederrheinischen Schwalmtal. Die Polizei beendete es gewaltsam. Eine der herbeigeeilten Helferinnen war die Flüchtlingsbeauftragte im Bistum Aachen Andrea Genten. Im Folgenden ihr Erlebnisbericht:
Gegen Mitternacht erreiche ich das Dominikanerinnen-Kloster Schwalmtal-Waldniel im Kreis Viersen. Tags zuvor hat mich die Priorin des Klosters, Schwester Klarissa Watermann, auf Anraten von Weihbischof Reger um Hilfe gebeten. Das Kloster gewährt seit sieben Monaten einer kurdischen Familie Kirchenasyl. Die Ausländerbehörde des Kreises Viersen betreibt die Abschiebung des Vaters und der beiden Söhne. Die beiden volljährigen Töchter sind als politische Flüchtlinge anerkannt, eine weitere Schwester hat ein dauerhaftes Bleiberecht auf Grund ihrer Heirat, das erste Enkelkind ist in Deutschland geboren. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat der Mutter Abschiebeschutz wegen schwerer Traumatisierung zuerkannt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Die Ausländerbehörde des Kreises Viersen ist nicht bereit, den Ausgang des Verfahrens abzuwarten. Bei positivem Ausgang aber besteht die Chance auch für den Vater und die Söhne, Abschiebeschutz zu erhalten. Beim Amtsgericht Mönchengladbach hat die Behörde Antrag auf Abschiebehaft gestellt. Zum Gerichtstermin ist polizeiliche Vorführung angeordnet.
Eine Familie soll auseinander gerissen werden, die bereits Fürchterliches in der Türkei erlebt hat. Mit der Bitte um Respektierung des Kirchenasyls und der Suche nach einer humanitären Lösung für die kurdische Familie haben sich die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, der Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen und der Aachener Friedenspreis an den Kreis Viersen gewandt. Priorin Watermann gehört der Initiative »Ordensleute für den Frieden« an, die in diesem Jahr mit dem Aachener Friedenspreis geehrt wird.
Als ich nachts auf das Klostergelände einbiege, begegne ich bereits Unterstützern. Es folgt der erste Kontakt mit der Mutter der bedrohten Familie und ihren beiden Töchtern. Die Angst ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Aus Telefonaten mit dem Anwalt weiß ich, dass mir schwer traumatisierte Frauen gegenüberstehen.
Später ruhen wir auf Matratzenlagern. Die Männer der Familie übernachten aus Sicherheitsgründen unter dem Schutz des Altars in der Klosterkapelle. Kurz vor fünf läutet plötzlich das Telefon. Alarm! Ein PKW ist auf das Klostergelände eingebogen. Sofort sind alle hellwach. Dann die Entwarnung. Es ist nicht die Polizei, sondern ein Kamerateam des WDR.
Die Journalisten bleiben den gesamten Vormittag bei uns. Wir sind 16 Unterstützer, Frauen und Männer, darunter Ordensschwestern. Ich lerne eine Lehrerin kennen, die die beiden Brüder von Anfang an schulisch begleitet hat. Seitdem die Familie im Kirchenasyl lebt, kommt sie ins Kloster, um den aufgeweckten Sohn zu unterrichten, der kurz vor Abschluss der zehnten Klasse steht. Die WDR-Redakteurin interviewt den 17-Jährigen. Als Neunjähriger ist er nach Deutschland gekommen, spricht mittlerweile besser deutsch als türkisch. Er hat eine Lehrstelle in Aussicht. Er fürchtet sich vor einer Rückkehr in die Türkei, hat Angst um seinen Vater, will nicht von seiner Mutter und seinen beiden Schwestern getrennt werden.
Bange Stunden des Wartens folgen. Wird die Polizei kommen? Wird sie die Heiligkeit der Kapelle respektieren? Gegen 7.30 Uhr wird die Furcht zur Gewissheit. Zwei Einsatzwagen sind auf das Klostergelände gekommen.
Ein halbes Dutzend Polizisten steigt aus, mit ihnen die Leiterin der Ausländerbehörde, Frau Haimüller. Wir verschließen die Kapellentür, ich setze mich an die Tür. Die Schwestern und anderen Unterstützer haben die Arme untereinander verschränkt. Die kurdischen Männer haben sie in die Mitte genommen. Wir hören Stimmen, Lachen. Mir gegenüber sitzen die beiden Töchter der Familie, die jüngere ist aschfahl, scheint vor einer Ohnmacht zu stehen. Vergeblich reden wir auf sie ein, die Kapelle zu verlassen, zu ihrer Mutter zu gehen, die auf der Krankenstation mit Beruhigungsmedikamenten behandelt wird.
Als die Priorin des Klosters sich weigert, die Männer der Polizei zu übergeben, dringt diese in das Klostergebäude ein und durchsucht sämtliche Räume. Augenzeugen bemerken, wie unangenehm es den Beamten ist, die Zimmer der alten und teilweise bettlägerigen Schwestern zu durchsuchen - die Kapelle befindet sich im Pflegeheimtrakt des Klosters. Dennoch setzen sie ihr Tun fort.
Schließlich gelangen die Ordnungshüter an die verschlossene Kapellentür. Wir folgen der Aufforderung nicht, die Tür zu öffnen. Der Schlüsseldienst wird angefordert. Vergeblich, Schlüssel und Türklinke werden festgehalten. Da wir von innen die Rollläden herunterziehen, ist auch der Zugang durch die Fenster versperrt. Schließlich wird der Schlüsseldienst beauftragt, die Tür mit einer Säge zu öffnen.
In dieser Situation bittet uns die Priorin, die Tür zu öffnen. Beim Anblick der Uniformierten geraten die kurdischen Frauen außer sich. Voller Entsetzen beginnen sie zu schreien. Sie weinen, zittern am ganzen Körper. Die Priorin stellt sich in den Türrahmen und erklärt, dass es sich hier um einen sakralen Raum handelt. Sie bittet, die Heiligkeit des Ortes zu respektieren. Im Inneren der Kapelle wird laut der Rosenkranz gebetet. Die Polizisten lassen sich nicht abhalten.
Schwester Klarissa setzt sich entschlossen in den Türeingang. Als die Polizisten versuchen, sie zu entfernen, hake ich mich bei ihr unter. Drei Polizisten versuchen uns wegzudrängen. Der Priorin wird der Ordensschleier vom Kopf gerissen. Schließlich gelingt es der Polizei in die Kapelle einzudringen. Später erfahren wir, dass der Einsatzleiter währenddessen bei Gericht anruft. Soll er die Aktion abblasen? Das Gericht beharrt jedoch auf polizeilicher Vorführung. Die Polizei fordert Verstärkung an.
Auf dem Flur steht eine Mauer von Polizisten. Die jüngere der kurdischen Schwestern redet auf die Polizisten ein, weint, bettelt, fleht: »Lasst mir meinen Vater, lasst mir meine Brüder! Habt ihr denn kein Herz?« Wiederholt fällt sie für kurze Zeit in Ohnmacht. Ich versuche ihre Füße hochzulegen. Doch wie eine aufgedrehte Feder springt sie immer wieder auf und rennt gegen die Polizisten an, um zurück in die Kapelle zu gelangen. Doch der Weg bleibt ihr versperrt.
Die Mutter hat es nicht mehr in der Krankenstation gehalten. Auch sie liegt schreiend am Boden. Mein Blick fällt auf die ältere Tochter. Sie sitzt bewegungslos auf der Treppe. Die Hände hängen kraftlos am Boden, ihr Blick ist starr. Ich halte es nicht mehr aus, schreie die Polizisten an: »Sehen Sie nicht, was Sie hier anrichten. Sie haben schwer traumatisierte Menschen vor sich. Durch das, was Sie hier tun, traumatisieren Sie sie erneut!« Die Beamten berufen sich auf ihre Befehle. Ich sage ihnen: »Sie müssen das nicht tun.« Einer entgegnet: »Wir stehen dahinter.«
Der Zustand der Frauen verschlechtert sich dramatisch, sie werden notärztlich behandelt. Vergeblich versuche ich die Leiterin der Ausländerbehörde umzustimmen. Frau Haimüller wischt alles vom Tisch. Es gebe einen Gerichtsbeschluss. Dabei verschweigt sie, dass es ihre Behörde war, die den Antrag auf Abschiebehaft gestellt hat. Die Männer sind ausreisepflichtig, sie sollen abgeschoben werden.
Ich renne zum Büro der Priorin, rufe Bischof Heinrich Mussinghoff an. Aufgeregt bitte ich ihn um Hilfe. Er verspricht sie. Weitere telefonische Hilferufe folgen: an die Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, an den Aachener Friedenspreis, an die Kirchenzeitung und die Presse. Die Priorin kommt und erklärt, dass die Polizei mit der Räumung begonnen habe. Die Ordensschwestern und die anderen Unterstützerinnen werden aus der Kapelle getragen, Personalien festgestellt.
Die kurdischen Männer werden, teils in Handschellen, in einen vergitterten Polizeibus gebracht. Sie erhalten keine Gelegenheit, sich zu verabschieden. Fassungslos sehen Klassenkameraden des 17-Jährigen mit an, wie ihr Klassensprecher abtransportiert wird. Schwester Klarissa und ich machen uns unverzüglich auf zum Amtsgericht Mönchengladbach. Trotz unseres lautstarken Protestes in der Gerichtsverhandlung ordnet das Gericht in allen drei Fällen Abschiebehaft an. Auf die bange Frage des 17-Jährigen, ob er allein in eine Zelle komme, erklärt die Richterin: »Wir haben Sie als Familie gemeldet.« Man ist schließlich kein Unmensch!
»Die nüchterne Meldung« - Berichte von »Neue Ruhr Zeitung«, und »Frankfurter Rundschau« siehe Printausgabe