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Goethes lieber, gnädiger Herr

Wer auf die Weimarer Klassik blickt, darf Herzog Carl August nicht übersehen

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 10 Min.
Den letzten Brief an Goethe schreibt er am 17. Mai 1828. »Meine Reise nach Berlin«, kündigt er an, »werde ich noch um eine Woche verschieben, weil mir nicht recht wohl ist, und die Witterung gar zu unstedte ist.« Zwölf Tage später, am 29. Mai, bricht er in aller Frühe tatsächlich auf, um in Berlin einen gerade geborenen Urenkel zu sehen. Er bleibt zwei Wochen und hat auf der Rückreise schon Schloss Graditz bei Torgau erreicht, als ihm so übel wird, dass er kaum etwas essen mag. Später rappelt er sich noch einmal auf, mustert Pferde und beteiligt sich an einem Gespräch, das um sein Lieblingsthema, das Militär, kreist, doch dann, in seinem Zimmer, stürzt er, vom Schlag getroffen, zu Boden. Am Abend dieses 14. Juni 1828, vor 175 Jahren, geht im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach eine Ära zu Ende. Sie dauerte 53 Jahre, und sie strahlte so hell wie keine Epoche zuvor, auch wenn sie an den Lebensverhältnissen der Untertanen kaum etwas geändert hat. Goethe sitzt mit einigen Gästen am Mittagstisch, als die Kunde am nächsten Tag Weimar erreicht. »Die Nachricht von dem Tode des Großherzogs«, überliefert das Tagebuch, »störte das Fest.« Am späten Abend hört Eckermann angeblich schon von draußen, wie Goethe im Zimmer schluchzt und laut vor sich hinspricht. Sonst lässt sich der 78-Jährige seine Erschütterung nicht anmerken. Wie immer, wenn jemand in der näheren Umgebung stirbt, gibt er sich ruhig und gefasst. Scheinbar ungerührt setzt er sein Tagewerk fort, empfängt Besucher, liest, besorgt Kleinigkeiten, ordnet Kupfer und Zeichnungen, diktiert und korrigiert, fährt spazieren und verbringt Stunden mit Joseph Karl Stieler, der nach Weimar gekommen ist, um ihn für den bayerischen König Ludwig I. zu porträtieren. Am 6. Juli hat der Maler seine Arbeit getan, man nimmt abends Abschied, und nun gibt es für Goethe kein Halten mehr. Am Morgen des 7. Juli wird »eingepackt und verschiedenes noch abgethan«, dann bricht er auf, bleibt noch ein bisschen in Jena und fährt dann weiter nach Dornburg. Er bezieht ein Zimmer im Renaissanceschloss hoch über der Saale und bleibt dort bis zum 12. September. Eckermann spricht von der »unersetzlichen Lücke«, die in Goethes Dasein gerissen wurde, und man kommt in den »Gesprächen« auf Carl August häufig zurück. Der Herzog, seit dem Wiener Kongress 1815 Großherzog, ist die dominierende Figur in Weimar, er ist es ein halbes Jahrhundert lang auch für Goethe, der von ihm sagt, er sei jemand gewesen, der ein Herz für große Männer hatte und für sie so viel tat wie kein König irgendwo in Deutschland. Der Autor des »Götz« und des »Werther«, geadelt von frischem Ruhm, war der erste, den er in seine winzige und ärmliche Residenz lockte. Da war er gerade 18, soeben vermählt mit Louise, der Prinzessin von Hessen-Darmstadt, und seit kurzem der regierende Herr, aber er sah bereits, dass mit diesem genialen Frankfurter Jüngling etwas anzufangen wäre in dem engen Ländchen, das nach Reformen geradezu schrie. Doch mit Reformen hat es 1775/76 noch Zeit. Das Amüsement geht vor, und mit dem acht Jahre älteren Goethe lässt es sich prächtig reiten, jagen, tanzen, toben, trinken und tändeln. Sie haben's wüst getrieben, der vergnügungssüchtige Regent und sein Favorit, so laut und spektakulär, dass man sogar im fernen Hamburg über das Weimarer Tollhaus in Sorge gerät und Klopstock, immerhin der erste Dichter im Land, einen höchst besorgten Brief an Goethe schickt. »Die Teutschen«, schreibt er am 8. Mai 1776, »haben sich bisher mit Recht über ihre Fürsten beschweret, daß diese mit ihren Gelehrten nichts zu schaffen haben wollen. Sie nehmen itzund den Herzog von Weimar mit Vergnügen aus. Aber was werden andre Fürsten, wenn Sie in dem alten Tone fortfahren, nicht zu ihrer Rechtfertigung anzuführen haben, wenn es nun wird geschehen sein, was ich fürchte, daß geschehen werde?« Goethe, beleidigt und trotzig, wartet lange mit der Antwort. Dann rät er dem Mahner knapp: »Verschonen Sie uns ins Künftige mit solchen Briefen, lieber Klopstock!« Der junge Herzog ist stämmig und untersetzt schon in frühen Jahren, aber er hat nicht nur einen Hang zu derben Späßen, sondern auch Witz und Geschmack, und wenn sich der Sturmlauf gegen die Etikette und das höfische Regelwerk erst einmal gelegt hat, wird er zeigen, dass er kein grobschlächtiger Wüterich ist. Er weiß, dass rund um Weimar vieles verändert werden muss, in der Verwaltung, im Militär, im Steuerwesen, und Goethe soll ihm dabei helfen. Er ist großzügig. Schenkt ihm das Gartenhaus an der Ilm, ernennt ihn zum Geheimen Rat und boxt ihn, den Bürgerlichen, gegen alle Widerstände in das Geheime Consilium, die oberste Regierungsinstanz. Und der Minister Goethe, froh, der ungeliebten Juristerei in Frankfurt entronnen zu sein und eine lohnende Aufgabe gefunden zu haben, spannt sich ins Joch. Kümmert sich um Wegebau und Abgaben, Entwässerungsanlagen, den Bergbau in Ilmenau, die Aushebung der Rekruten. Er studiert Akten, dringt in die Geheimnisse der Chemie und Geologie vor, reitet kreuz und quer durchs Land, ist ständig unterwegs. Sie verkehren wie Freunde. Der Ton ist salopp. Der Herzog duzt ihn, Goethe bleibt beim Sie. Wenn er ihm schreibt, heißt es »Lieber, gnädiger Herr« oder auch, wenn es um Dienstliches geht, formvollendet »Durchlauchtigster Herzog, Gnädigster Fürst und Herr«. Einmal, als Carl August drauf und dran ist, die schöne Schauspielerin Corona Schröter zu seiner Mätresse zu machen, traut Goethe sich sogar, ihm in die Parade zu fahren. Der Preis ist hoch, denn er verlangt, dass er selber verzichtet. Immerhin hat die Intervention Erfolg. Auch die Flucht nach Italien, in die selbst Carl August nicht eingeweiht ist, wird Goethe verziehen, und einsichtig wird sich der Herzog auch zeigen, wenn der Dichter, 1788 wieder in Weimar, darum bittet, ihn von den lästigen Regierungsgeschäften zu entbinden. Er wird ihm im Lauf der Zeit manchen Liebesdienst erweisen, wird ihm Macht verschaffen und Besitz, sich auch nach Kräften mit ihm schmücken. Und dennoch, bei aller Zuneigung, aller Wärme, allem Verständnis: Die Unterschiede bleiben. Der größte: Goethes Gefährte ist nicht nur Musenfreund, er ist der Regent, und er zögert nicht, das auch allen zu zeigen. Der Herzog habe seine Existenz im Hetzen und Jagen, erklärt Goethe einmal enttäuscht, und wo immer er hinkommt in diesen ersten Weimarer Jahren, stößt er auf Plackerei und bittere Armut, die Kehrseite höfischer Prasserei. Er spricht von der »Verdammnis, daß wir des Landes Mark verzehren«. Und weiß gleichzeitig, dass es in seinen Kräften nicht liegt, daran etwas zu ändern. »Denn ich sage immer«, schreibt er im Juli 1786 an Charlotte von Stein, »wer sich mit der Administration abgiebt, ohne regierender Herr zu seyn, der muß entweder ein Philister oder ein Schelm oder ein Narr seyn.« Er kann sich mit dem, was er als Minister erreicht hat, durchaus blicken lassen. Es hat ein paar Verbesserungen gegeben, Korrekturen, Zugeständnisse, mehr aber auch nicht. Die »Fürstenerziehung« ist rasch an ihre Grenzen gestoßen. Goethe nennt den Herzog »eine dämonische Natur, voll unbegrenzter Tatkraft und Unruhe, so daß sein eigenes Reich ihm zu klein war, und das größte ihm zu klein gewesen wäre«. Er rührt damit an den wunden Punkt, denn Carl August ist mit Begeisterung Soldat. Der Spaß am Militärischen ist ihm nicht auszutreiben, und in Weimar ist es ihm ohnehin viel zu eng und langweilig. Immerzu sucht er nach Bewährung, Einfluss und Geltung. Ständig hofft er, ein Kommando zu kriegen, irgendwann auch ein größeres Reich. Er dient sich den Preußen an, zieht als Offizier mit nach Schlesien und in den jämmerlichen Koalitionskrieg gegen das revolutionäre Frankreich. Und Goethe, der vom Militär nichts hält, der es sogar schaffte, das Weimarer Heer von 571 auf 323 Mann zu reduzieren, muss mit. Er erlebt die Kanonade von Valmy und die Belagerung von Mainz, das klägliche Scheitern das Feldzugs und ist heilfroh, wenn alles vorbei ist und er heim kann zur Gefährtin und zu seinem Sohn. Der Herzog indes ist keinen Schritt weitergekommen. Nun sitzt er wieder im winzigen Weimar und starrt resigniert in leere Kassen. Politisch stehen sie oft genug an verschiedenen Ufern. Die soldatische »Ruhmbegier« Carl Augusts, sein Ehrgeiz, im Konzert der Mächte mitzuspielen, sein hitziges Patriotentum sind Goethe ein Gräuel. Der bleibt Napoleon-Verehrer auch nach 1806, als die Franzosen nach der gewonnenen Schlacht von Jena und Auerstedt in Weimar Angst und Schrecken verbreiten, Serenissimus hilft, Napoleon 1813 zu schlagen. Nie waren die Spannungen zwischen beiden größer als in dieser stürmischen Zeit. Aber über alles Trennende hinweg hält Carl August an seinem Dichter fest. Er ärgert sich, wie er bekennt, über Goethe manchmal »zu schanden«. Dass der ausgerechnet Christiane Vulpius in sein Haus holte, ein Mädchen niederen Standes, dass er sich damit der Hofgesellschaft entfremdete und dass er mit dieser Frau dann noch einen illegitimen Sohn hat, ist für ihn ein Skandal. Er wirft ihn für einige Zeit aus dem Haus, in dem er ihn wohnen ließ. Auch später, wenn sich der Konflikt zwischen dem Theaterintendanten Goethe und der Schauspielerin Caroline Jagemann zuspitzt, hält Carl August treu zur Mätresse, seiner Nebenfrau. Goethe gibt den Posten daraufhin auf und zieht sich immer häufiger nach Jena zurück. Er ist das Genie, der bewunderte Poet. Seinetwegen pilgert man nach Weimar. Trotzdem kann er sich seiner höfischen Stellung nie ganz sicher sein. Serenissimus lässt ihn auch schon mal zappeln, indem er sich vor festen Zusagen drückt. Dann wieder springt er über den aristokratischen Schatten, sanktioniert die Ehe mit Christiane und schenkt Goethe das Haus am Frauenplan. Er adelt ihn und nennt ihn schließlich, als man 1825 das 50. Dienstjubiläum des Dichters feiert, eine der »höchsten Zierden« seiner Regierung. Wer sich von Goethe (und der Weimarer Klassik) ein Bild machen will, darf Carl August nicht übersehen. Er hat in seiner Residenz ein paar der glanzvollsten Poeten versammelt und ihnen ein Klima geschaffen, das es woanders nicht gab. Dass Weimar die zentrale Stellung im deutschen Geistesleben jener Zeit einnahm, hat viel mit seiner Reformfreude und Toleranz, seinen künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen zu tun. In Jena sorgte er dafür, dass die Universität, angesehen wegen ihrer geistigen Freiheit, die noch schwach entwickelte naturwissenschaftliche Forschung intensivieren konnte. Er, ein liberaler Kopf, setzte die Pressefreiheit durch (die Goethe, gar nicht so liberal, »Preßfrechheit« nannte). Er duldete die Burschenschaften, die freilich immer radikaler wurden und ihm den Vorwurf eintrugen, sein Land zur »Brutanstalt des Jakobinismus« zu machen. Er widerstand eine Weile sogar dem infamen Metternich, der keine Drohung, keine Intrige, keinen diplomatischen Winkelzug ausließ, um ihn in den Schoß der absolutistischen Herrscher zurückzuholen. Am Ende, mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819, muss sich Carl August den Großmächten beugen. Ade Pressefreiheit, ade Burschenschaften. Und Jenas Universität wird unter strikte Kontrolle gestellt. Kurz vor seinem Tod, am Vormittag des 13. Juni 1828, ist der Großherzog in Potsdam und trifft dort Alexander von Humboldt. Sie sind mehrere Stunden allein. Carl August sitzt auf dem Kanapee, trinkt, redet und schläft zwischendurch ein paar Mal ein. Er ist heiter, wie sein Gesprächspartner berichtet, aber sehr erschöpft. Und hat trotzdem Fragen über Fragen. Alles findet sein Interesse: Physik, Astronomie, Meteorologie, Mondatmosphäre, Sonnenflecken, innere Erdwärme. Doch plötzlich kommt er auf den Pietismus zu sprechen »und den Zusammenhang dieser Schwärmerei mit politischen Tendenzen nach Absolutismus und Niederschlagen aller freien Geistesregungen«. Dazu, klagt er, sind es unwahre Burschen, »die sich dadurch den Fürsten angenehm zu machen glauben, um Stellen und Bänder zu erhalten«. Der Groll über die politische Entwicklung im letzten Jahrzehnt hat sich noch immer nicht gelegt. Im Oktober 1828 ist Humboldts Bericht Gegenstand einer Unterhaltung Goethes mit Eckermann. »Sie sehen«, sagt da der Dichter, »was für ein bedeutender Mensch er war.« Und ein bisschen später fügt er hinzu: »Nur ein lumpiges Jahrhundert länger, und wie würde er an so hoher Stelle seine Zeit vorwärts gebracht haben!« Zur weiteren Lektüre: Volker Ebersbach: Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Goethes Herzog und Freund. Böhlau-Verlag 1998. 276Seiten, gebunden, 20,50 EUR.

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