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  • Wirtschaft und Umwelt
  • Tücken des Zeitungshandels in Ostdeutschland: Vertriebs-Bürokratie gefährdet den Aufschwung von Kleinunternehmern

Beate Uhse hemmt Kioskbesitzer – Grossisten-Regime verdirbt die Lust am Handel

  • Lesedauer: 4 Min.

Am 14. Mai eröffnete der gelernte Diplom-Jurist Klaus Handke (53) in der Konrad-Wolf-Straße, Berlin-Hohenschönhausen seinen Kiosk. Eine Aufschwung-Ost-Story wie aus des Kanzlers Lehrbuch von den „blühenden Landschaften“ - eigentlich.

Über sieben Monate stand der ehemalige Postzeitungskiosk leer, geschlossen wegen mangelnder Rentabilität. Sagte die Postdienst-Service GmbH . Dann machte sich Handke, bisher PSG-Mitarbeiter in Pankow, selbständig. Schauen Sie auf diesen Ossi, Herr Bundeskanzler: Er arbeitet 80 Stunden pro Woche, ohne Aussicht auf Urlaub, er macht 700 Berliner als Kunden glücklich, er hat jenen schönen Platz an der Straßenbahnhaltestelle mit buntem Leben erfüllt, er strebt ganz optimistisch einen monatlichen Bruttogewinn von 3000 DM an. Da fällt sogar einiges für Waigel ab.

Und der Kiosk-Mann ist dankbar, lobt das Bezirksamt für die kooperative Zusammenarbeit. Ja, sogar das vielgeschmähte Bundesvermögensamt will er wegen der zügigen Bearbeitung seines Antrages gewürdigt wissen. Er klagt nicht mal über die 515 DM, die ihn jeden Monat sein Kredit für die Existenzgründung kostet. Nein, destruktive Nostalgie droht hier nicht, denn Handke ist klar: „Mit dem Arsch in der Klappe sitzen und sagen ,Hamwa nich', das ist vorbei“.

Hätte Handke jedoch nur Zeitungen und „Buntes“ (mehr oder minder glanzvoll Gedrucktes aller Art) im Angebot, wäre er „schon längst wieder pleite gegangen“. Grund: Der vom Brandenburger Pressevertrieb (BPV), dem für Ost-Berlin zuständigen Grossisten, angelieferte Publikations-Berg wird nicht in Kommission geliefert, sondern muß wöchent-

lich bezahlt werden. Den Vorwurf vieler Händler, „die arbeiten mit unserem Geld“, kennt Frau Kruse vom BPV-Kundendienst, weist ihn allerdings energisch zurück.

Jeden Dienstagmorgen präsentiert der BPV seine Rechnung für sämtliche Lieferungen der Vorwoche und besteht auf Zahlung bin-

denen Buden als Lager ihrer Druckwerke. So wurde Kiosk Handke am 5. August mit 13 Exemplaren des Beate-Uhse-Katalogs ä 5 DM Verkaufspreis beglückt. Lejder hat bisher nur ein Bürger das Lustgeräte-Angebot erwerben wollen, offizieller Remissions-Termin ist jedoch erst der 13. November. Und da Frau Uhse den Katalog als „Ganzexemplare“ (GE) zurückhaben will, der Pressevertrieb das Teil also nicht einfach dem Altpapier anvertrauen darf, hat der BPV natürlich kein Interesse, Katalog-Haufen im selbst monatelang zu lagern.

Wohl deshalb trichterte der damalige BPV-Außendienstmitarbeiter in Pankow Herrn Handke ein, in solchen Fällen keine Vorab-Remission durchzuführen. Auf ND-Anfrage mochte sich der BPV jetzt vorsichtshalber nicht auf ein derart striktes Regime festlegen. In Ermangelung einer passenden

Spalte auf dem Computer-Ausdruck, den der Pressevertrieb dem Händler schickt, lasse sich vielleicht „mit dem Rotstift“ irgendwie notieren, wieviele Exemplare man vorzeitig loszuwerden verlangt. Ob's was hilft, ist ungewiß.

So remittierte Handke am 31. Juli „Bussi Bär“, Sonderband, registriert unter der Objekt-Nummer 08869. Vier Tage später sei prompt das gleiche Heft angeliefert worden, diesmal unter der Objekt-Nr. 09493/001. „Quelle-Minikatalog“ (von 8 Stück 1 Exemplar verkauft) schwappte unaufgefordert ein zweites Mal, jetzt in vierzehnfacher Ausfertigung, über den Kiosk.

Auch der „Berufsmarkt Nord“ vermehrte sich unerwünscht. Bis vor vier Wochen trafen freitags regelmäßig 7 Stück ein, von denen sich mal ein oder zwei absetzen ließen. Ungeachtet dessen erhöhte

der BPV auf 20 Stück. Der Händler versuchte, die Zulieferung der gedruckten „Agitationsattacken“, so Handke über das ungeliebte Blatt, zu bremsen und bestellte 6 „Berufsmarkt“. Ergebnis: Er wurde vorletzte Woche mit 52 Exemplaren überhäuft. Den Verteiler-Amok mußte er am folgenden Dienstag mit 96,90 DM bezahlen.

Nicht bezahlt wird ihm der Einnahmeausfall, wenn von einer Berliner Boulevardzeitung am Samstag unplanmäßig ein Packen weniger ankommt. Und wieso der BPV die von Handke für seinen einzigen türkischen Kunden bestellte Tageszeitung „Huerriyet“ mal gar nicht, mal dreifach liefert, versteht wohl nur „der Computer“, den BPV-Mitarbeiter stets verantwortlich machen.

Das nervenaufreibende Zeitungsgeschäft bringt dem Mann vom Kiosk keine Reichtümer, je-

des verkaufte „Neues Deutschland“ schlägt bei Herrn Handke mit exakt 23,65 Pfennig Gewinn zu Buche. Daß er bisher überlebt hat, verdankt er seinen gekühlten Getränkedosen für eine Mark. Und dem „Doppelschluck“ Goldkrone, der die „Marktlücke Alkoholiker“ ausfüllt. Den Zigaretten, Kassetten und allerlei Nützlichem für den Haushalt.

Wenn Herr Handke Glück und der Pressevertrieb-Computer mehr Verstand hat, bringt der Kiosk seinen Besitzer sicher bis zur Rente. Dann hat er aus der Not, daß man „uns roten Socken genauso wie den Juden vor 1933 nur den Handel läßt“, eine Tugend gemacht. Ob Kanzler Kohl auf ihn stolz ist, wissen wir nicht. Doch die Hohenschönhauser können mit ihrer kreativen „roten Socke“ zufrieden sein.

MARCEL BRAUMANN

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