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  • Kultur
  • DEUTSCHE AUSWANDERUNG NACH AMERIKA

,Man gehet fort, um vom Elend wegzukommen

  • Karlen Vespe
  • Lesedauer: 4 Min.

Eingepfercht in die dumpfe Enge der Zwischendecks haben allein in dem Jahrhundert zwischen Wiener Kongreß 1815 und dem ersten Weltkrieg mehr als sechs Millionen Deutsche die Heimat verlassen und sind nach Übersee geschippert, in die „Neue Welt“. Die Frage, die dereinst Heinrich Heine - von der Reaktion in Deutschland zu lebenslangem Exil in Frankreich verurteilt - deutschen Auswanderern stellte, hat Heinrich Krohn zum Titel seines Buches gewählt: „Und warum habt ihr denn Deutschland verlassen?“

Es geht Krohn darum, aufzuzeigen, unter welchen Zwängen, ob welcher Motive und Hoffnungen Menschen ihr Land verließen, die Strapazen einer langen Reise nicht scheuend, das Risiko einer Ungewissen Zukunft auf sich nehmend. Auch die Probleme der Integration im sogenannten „gelobten Land“ sind Thema seines Buches, das angesichts der gegenwärtigen „Völkerwanderung“, der Flüchtlinge aus den Krisen- und Kriegsherden Osteuropas und der unseligen Asyldebatte in Bonn durchaus von aktueller Brisanz ist.

Der Strom der deutschen Aussiedler nach Amerika begann im südlichen Württemberg und Baden, in den Hungerjahren 1816/17. „Man gehet fort, um von dem Elend wegzukommen“, antwortete da-, mals ein Tagelöhner Friedrich List, der als „Königlicher Commissarius“ beauftragt worden war, die Gründe der vieltausendfachen Auswanderung zu erforschen. Nicht weniger „forttreibend“ wa-

Heinrich Krohn: Und warum habt ihr denn Deutschland verlassen? 300 Jahre Auswanderug nach Amerika. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1992, 352 S., Pappb., zahlr. Illustr., 42 DM.

ren aber auch die politischen Zustände in Deutschland und die behördliche Willkür, Motive, die im Buch leider etwas zu unterbelichtet bleiben. Bei anderen wiederum-waren es Abenteuerlust und Neugier. Glücksritter machten sich vor allem auf den Weg, als die ersten Nachrichten von Goldfunden in Kalifornien Mitte des 19. Jahrhunderts eintrafen.

Waren es anfangs Schwaben und Badener gewesen, so folgten bald Pfälzer, Hessen und Rheinländer. Mecklenburg und Pommern wurden erst später von der Auswanderungswelle erreicht, während Bayern und das schon früh industrialisierte Sachsen kaum von dieser „infiziert“ wurden. Den Anfang machten jene, die aus- religiösen Gründen aus Deutschland flüchteten. 1683 hatten die ersten 13 Familien, die der Reformationsbewegung der Mennoniten angehörten, Krefeld verlassen, um sich in Pennsylvania anzusiedeln. Ihnen folgten alsbald Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, wie der Herrnhuter, Quäker, Labadisten, Rosenkreuzler, Tunker und die Salzburger Protestanten.

Krohn stellt Pioniere der deutschen Auswanderung vor, kraftvolle, couragierte und geistreiche

Menschen: z.B. Franz Daniel Pastorius, der 1684 gewissermaßen das erste Werbeprospekt, wie man heute sagen würde, für Amerika herausgab („Sichere Nachricht auß America“); den Frankfurter Jakob Leisler, der es bis zum Senior-Captain der Bürgerwehr von New York brachte; den Buchdrucker Christoph Säur, der die erste deutsche Druckerei in den nordamerikanischen Kolonien gründete oder Friedrich Wilhelm von Steuben aus alter preußischer Soldatenfamilie, der auf Vorschlag Washingtons 1777 vom Kongreß zum Generalinspekteur der Unionsarmee ernannt wurde. Und da sind auch die „Achtundvierziger“ Friedrich Hecker, der 1861, zu Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges, ein Regiment aus Deutsch-Amerikanern zusammenstellte, und Carl Schurz, der in Nordamerika Innenminister unter Präsident Hayes wurde, das höchste Staatsamt, das ein deutscher Einwanderer jemals einnehmen sollte. Die deutschen Einwanderer - nach den Engländern und Iren die drittstärkste Volksgruppe - hatte keinen geringen Beitrag geleistet, daß die USA zu einer Weltmacht wurde.

Der Autor beschreibt in seinem höchstinteressanten Buch auch, wie „Lockvogel“ dafür sorgten, daß der Strom der Einwanderer nach Amerika nicht abriß, denn dieses weite Land brauchte Arbeitskräfte. Auch im Auftrage von Schiffseigener waren Werbeagenten unterwegs und malten ihren Opfern ein verlockendes Bild des „gelobten Landes“. Wer da vor Not

nicht ein noch aus wußte, der war für Versprechungen nur allzu empfänglich, vor allem, wenn sie so gut klangen wie diese: „Wer mitgehet als ein Knecht, der wird ein Herr; als Magd, die wird eine gnädige Frau; als Bauer, der wird ein Edelmann; als Bürger und Handelsmann, der wird ein Baron.“

Für viele jedoch brachte bereits der erste Tag in Amerika ein böses Erwachen. Auf deren, von Enttäuschung und Verbitterung geprägten Briefe an zurückgebliebene Freunde und Verwandte machten die deutschen Behörden alsbald regelrecht Jagd. Der Obrigkeit konnte auf die Dauer der Abwanderungsstrom ihrer Untertanen nicht recht sein. Neben der Veröffentlichung der „Hiobs-Briefe“, ersann man noch etliche andere Methoden, die Massenflucht zu stoppen: Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg erließ z.B. ein Veräußerungsverbot von Grund und Boden; Fürst Wilhelm von Nassau-Dillenburg versuchte mit Steuersenkungen entgegenzuwirken; im Fürstentum Sayn-Wittgenstein wiederum drohte man mit Beschlagnahme des Eigentums.

Auch zu einem Exkurs über die Auswanderung im 20. Jahrhundert lädt der Autor ein - dieser ist allerdings allzu knapp und mager. Die erzwungene Flucht aus Nazideutschland kann nicht mit einigen dürren Sätzen abgespeist werden. Der Autor hätte besser getan, darauf zu verzichten und diesem tragischem Kapitel deutscher Geschichte ein gesondertes Buch zu widmen.

KARLEN VESPER

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