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»Verpolizeilichung« des Strafverfahrens hat ständig zugenommen

Teil 3

  • Lesedauer: 6 Min.
In den letzten Jahren, besonders unter der rot-grünen Koalition, wurde eine Reihe von Justizgesetzen und Gesetzen auf dem Gebiet des BGB verabschiedet. Mit dem Charakter dieser Gesetze und ihren Folgen beschäftigt sich der mehrteilige Beitrag unseres Autors, Rechtsanwalt Prof. Dr. ERICH BUCHHOLZ. Die ersten beiden Teile erschienen im ND-Ratgeber Nr. 502 vom 15. August 2001 bzw. Nr. 503 vom 22. August 2001.
Noch weiter geht der Abs. 3 der neugefassten Vorschrift des §131 StPO: Bei einer »Straftat von erheblicher Bedeutung« (was ist das??), deren Beurteilung - bei Gefahr im Verzuge, die notfalls immer angenommen wird - durchaus auch der Polizei obliegt, kann auch »Öffentlichkeitsfahndung« veranlasst werden, »wenn andere Formen der Aufenthaltsermittlung erheblich weniger Erfolg versprechen oder wesentlich erschwert werden« (auch darüber befindet vornehmlich die Polizei). Der Beschuldigte ist möglichst genau zu bezeichnen und - so weit erforderlich! - zu beschreiben; eine Ablichtung darf beigefügt werden. Tat und Tatumstände müssen nicht angegeben werden. Noch viel weiter gehen die Vorschriften der §§131a und b. Hier geht es um die »Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung«, also nicht um die Ausschreibung zur Festnahme. Die Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung eines Beschuldigten oder auch eines Zeugen darf angeordnet werden, wenn sein Aufenthalt nicht bekannt ist, also auch der Aufenthalt des Zeugen! Bei einer »Straftat von erheblicher Bedeutung« darf für diese Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung eines Beschuldigten oder auch eines Zeugen gleichfalls eine Öffentlichkeitsfahndung angeordnet werden, wenn der Beschuldigte der Begehung der Straftat dringend verdächtig ist (das ist die Voraussetzung bei jedem Haftbefehl) und die Aufenthaltsermittlung - nach Auffassung der Polizei - auf andere Weise erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wäre. Die Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung darf in allen Fahndungshilfsmitteln der Strafverfolgungsbehörden vorgenommen werden. Auch bei dieser Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung ist eine Beschreibung des Beschuldigten beziehungsweise eines Zeugen, eventuell die Beifügung einer Abbildung, vorgesehen. Bei Zeugen wird im Gesetz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei deren Aufenthaltsermittlung erkennbar gemacht werden muss, »dass die gesuchte Person nicht Beschuldigter ist«. Man stelle sich das praktisch vor: Auf einer entsprechenden Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung (und womöglich auch in Medien) finden sich Name und Abbildung einer diesem oder jenem bekannten Person. Wie leicht kann die Annahme entstehen, dass dieser Bekannte ein gesuchter Straftäter ist! Denn ob derjenige, der im Fall einer solchen Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung (ähnlich wie ein Steckbrief aussehend) einen Bekannten wieder erkennt, auch gelesen hat, »dass die gesuchte Person nicht Beschuldigter ist«, kann schon zweifelhaft sein. Im Übrigen besteht ja die Lebenserfahrung, dass ein aufgekommenes Gerücht beziehungsweise eine irrige Annahme nur sehr schwer zu zerstreuen ist. Es heißt dann allerdings weiterhin im Gesetz: Die Öffentlichkeitsfahndung nach einem Zeugen unterbleibt, »wenn überwiegende schutzwürdige Interessen des Zeugen entgegenstehen«. Auch darüber befindet die Polizei, denn der betreffende Zeuge beziehungsweise sein Aufenthalt ist ja nicht bekannt und er kann daher nicht befragt werden; wenn dieser später einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt, ist das »Unglück« bereits geschehen. Auch steht im Gesetz: »Abbildungen des Zeugen dürfen nur erfolgen, so weit die Aufenthaltsermittlung auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.« Auch darüber befindet die Polizei, und die oben beschriebene denkbare Situation und Folge kann gleichwohl eintreten. In § 131 b ist die Veröffentlichung von Abbildungen geregelt. Nach dieser Vorschrift geht es wohl schon nicht mehr nur um einen bestimmten Beschuldigten und eine bestimmte Straftat, sondern um weiter reichendes: Nach dieser Vorschrift ist die Veröffentlichung von Abbildungen eines Beschuldigten, der »einer Straftat von erheblicher Bedeutung« verdächtig ist, zulässig, wenn die »Aufklärung einer Straftat, insbesondere die Feststellung der Identität eines unbekannten Täters auf andere Weise erheblich weniger Erfolg versprechend oder wesentlich erschwert wäre«. In den Händen der Polizei ist das ein ziemlicher Freibrief. Ähnliches gilt für die Veröffentlichung von Abbildungen eines Zeugen. Solche - und Hinweise auf das der Veröffentlichung zu Grunde liegende Strafverfahren - werden ausdrücklich für zulässig gehalten, »wenn die Aufklärung einer Straftat von erheblicher Bedeutung, insbesondere die Feststellung der Identität des Zeugen, auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Auch hier folgt der - lebensfremde - Satz, dass die Veröffentlichung erkennbar machen muss, dass die abgebildete Person nicht Beschuldigter ist. Nach der Lebenserfahrung dürfte dieser Hinweis in der Praxis des Lebens wenig helfen. Bemerkenswert und der Hervorhebung wert sind vor allem zwei Gesichtspunkte: Zum einen geraten Beschuldigter und Zeuge, wie selbstverständlich, gleichrangig in den Blickpunkt der Strafverfolgungsbehörden. Was als Schutz für den Zeugen gedacht ist, erweist sich als recht vage und praktisch, d.h. im Sinne des Schutzes des Zeugen, als wenig brauchbar. Vor dem Hintergrund der Vermittlung öffentlicher Strafverfolgung durch die Medien dürfte der Persönlichkeitsschutz des Zeugen kaum noch gesichert sein. In die Nähe des Strafverfahrens gerückt zu werden, kann sehr wohl ausreichen, um die Persönlichkeitsrechte eines Zeugen nachhaltig zu beeinträchtigen. Die Abwägung von schutzwürdigen Interessen des Zeugen auf der einen Seite und der Funktionstüchtigkeit der Strafverfolgung auf der andern Seite liegt ausschließlich bei den Strafverfolgungsbehörden. Weiter: Die Befugnis zur Ausschreibung wird nach den neuen Vorschriften nicht auf einzelne spezifische Straftaten erstreckt; auf ein Straftatenkatalog wird überhaupt verzichtet. Nachdem schon vor Jahren die »Katalogtaten« (eine Liste von im Gesetz, also abstrakt, vorgesehenen Straftaten) zur Auflösung des Begriffs Straftat im Strafverfahren führten, wird nunmehr nicht einmal eine solche Liste von Katalogtaten als Voraussetzung der vorgenannten Eingriffe verlangt. Die Ausdehnung der strafprozessualen Ermächtigung mündet nunmehr in die Generalklausel der »Straftaten von erheblicher Bedeutung«, deren inhaltliche Ausgestaltung den Instanzen des Kriminaljustizsystems überlassen bleibt. Eine gravierende, recht unmerkliche Veränderung erfuhr der § 161. Jetzt geht es nicht mehr nur um Auskünfte in Bezug auf ein spezielles Strafverfahren. Was bisher als »Aufgabenzuweisung bzw. Organisationsregel« verstanden wurde, ist inzwischen zu einer Generalermittlungsbefugnis für Maßnahmen geworden, denen eine geringere Eingriffsintensität zugeschrieben wird als die klassischen prozessualen Zwangsbefugnisse, wie Durchsuchung, Beschlagnahme oder körperliche Eingriffe. Es können nämlich nun Erkundigungen im Umfeld einer gesuchten Person, nicht unbedingt nur des Beschuldigten, eingeholt werden - einfache Fahndungsmaßnahmen unterhalb der Schwelle in der §§131, 131 a und 131 b, kurzfristige Observationen, der Einsatz sog. Scheinaufkäufer außerhalb von Wohnungen sowie das Ausnutzen von V-Mann-Erkenntnissen, sofern diese nicht in einer vernehmungsähnlichen Situation gewonnen werden. Diese Generalbefugnis des § 161 dürfte überall dort herangezogen werden, wo sich staatliche Ermittlungstätigkeit im Dunkeln bewegen will. Denn ohne Bezug zum Verdacht ist die neu gefasste Vorschrift ein Instrument zur Erforschung von Gesellschafts- und Gruppenstrukturen politisch nutzbar. Der »rechtsstaatliche Skandal« der neuen Vorschriften liegt vor allem in der generellen Nutzbarkeit von Beweismitteln für das Strafverfahren, die im Rahmen der präventiv-polizeilichen operativen Tätigkeit gewonnen wurden. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich eine Regelung verworfen, wonach personenbezogene Informationen aus präventiv-polizeilichen Rasterfahndungen, Abwehrmaßnahmen außerhalb des Schutzbereichs der Wohnung oder aus dem Einsatz verdeckter Ermittler nur bei bestimmten Katalogtaten im Strafverfahren Verwendung finden dürften. Der Gesetzgeber ging demgegenüber - absichtsvoll - viel weiter: Solche präventiv-polizeilichen Erkenntnisse sollen in vollem Umfang zu Beweiszwecken frei verwertbar sein, also auch für »Nicht-Katalogtaten«. Von sachkundiger Seite wird zu dieser Vorschrift gesagt: Der Gesetzgeber hat die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seinem Volkszählungsurteil konterkariert, deren Umsetzung er vorgaukelte. (wird fortgesetzt)

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