So leis so stark
Zum heutigen 70. Geburtstag des Dichters Reiner Kunze
(1976)
Reiner Kunzes Gedichte haben eine Zartheit, die unantastbar ist. Sie sind Schmelze bis auf den Kern. Der leuchtet, ist kristallin, ist hart. »Auch dem vers ist's versagt,/ leichter zu sein/ als sein gewicht.« Kunze selber sieht in Gedichten einen Blindenstock des Autors, »mit ihm berührt er die dinge/ um sie zu erkennen«. In der Natur, in den Zeitläuften, in Erdgegenden zwischen Michailowskoje und Manhattan. Literatur als jenes blinde Sehen, das die Welt deshalb erkennt, weil ein Mensch so unsicher wie vertrauend nach ihr tastet. Jeder Art von Weltanschauung überlegen, deren Blindheit die Dinge einordnet, bevor sie berührt werden. Weil Kunze tastet, sind in Jahrzehnten der konsequenten Geduld und Gelöstheit nur wenige Gedichtbände erschienen.
In dem Bergarbeitersohn aus Oelsnitz, 1933 geboren, arbeitet seit jeher die Gabe der aphoristischen, also auch sarkastischen Pointierung. Aber mit den Jahren hat sich diese lakonische, minimalistische Dichtung, die auf Orientierung und Position im Leben aus ist, doch mehr und mehr ins Geheimnis des Unausgesprochenen gewagt. Ins Religiöse, das seinen wunderbarsten Ausdruck immer wieder in Gedichten über das Göttlichste findet: die Musik. Poesie ist für Kunze etwas Frommes, ist Glaube, ist im Zerbersten der Verhältnisse ein trotziges leises Ja zum Leben. Dieses Leben darf niemand, will er Mensch bleiben, auf eigene Rechnung führen, aber kompromisslos muss er es - so der Titel eines Gedichtbandes - »Auf eigene Hoffnung« tun.
»sensible wege« (1969 im Westen erschienen, gewidmet dem tschechischen und slowakischen Volk), »zimmerlautstärke«, »eines jeden einziges leben« - diese Titel verweisen auf ein Dasein abseits der Hauptstraßen, kennzeichnen jahrelangen Zwang zur Gedämpftheit beim Verbreiten der Wahrheit, behaupten die Kostbarkeit jeder individuellen Existenz. Aber besagte Zimmerlautstärke ist nicht nur Not, sondern auch Tugend: Kunzes Lyrik ist ein Werk des Maßes, der selbstbewussten Zurückhaltung, des stolzen Bedenkens schriftstellerischer Bestimmung jenseits von Ideologie und Literaturbetrieb. »Sie wollen nicht deinen flug, sie wollen/ die federn.« Im Gedicht »Silberdistel« heißt es: »Sich zurückhalten/ an der erde// Keinen schatten werfen/ auf andere// Im schatten der anderen/ leuchten.«.
1977 verlässt Kunze mit seiner Familie die DDR, er lebt seither in Bayern. Nach frühem, praktiziertem Idealismus, der in die SED-Mitgliedschaft führte, arbeitete sich an ihm aller Hass, alle Schikane, alle Beeinträchtigung ab, zu der staatliche Verfolgungssystematik fähig war. Einer der vermeintlichen Greizer Freunde, Manfred Böhme, erwies sich als einer der infamsten Spitzel, nannte sich später Ibrahim Böhme und machte in der Wendezeit SDP- und SPD-Karriere.
1973 erscheint zwar bei Reclam noch Kunzes Gedichtsammlung »Brief mit blauem Siegel«, aber die traurige Gnade des Exils, dem wegen Westveröffentlichung des Buches »Die wunderbaren Jahre« ein Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband vorausgeht, ist nicht mehr abzuwenden. Im Westen hat sich Kunze nie vor den Karren öffentlicher Abrechnungen spannen lassen, machte aber aus der Verachtung eines unfreien Systems, das er hinter sich lassen konnte, nie einen Hehl. Ein IM-Bericht 1976: »Frau J., die mit Kunze im Haus wohnt, äußerte, daß es der Kunze gar nicht wert ist, bei uns so human behandelt zu werden, denn der Kunze ist für sie ein Spitzel der BRD und gehört hinter Schloß und Riegel.«
Der Schriftsteller ist aus gutem und aus bitterem Grund ein wählerischer, vorsichtiger Einzelgänger geblieben. Das Laute liegt für ihn stets in der Nähe des Gemeinen; er weiß, warum die Menschen die Stille meiden: weil wir sonst, wie es in einem Vers heißt, in uns die Schuld knien hören.
Immer müssen, wenn von Kunze gesprochen wird, auch dessen Freundesmenschen und Erfahrungskameraden genannt werden, etwa Günter Ullmann aus Greiz, ein in DDR-Haft zerbrochener Lyriker, oder Horst Drescher, der Leipziger Schriftsteller, der so beschämend tapfer ausharrte im ewigen Zustand des Wartens auf andere Zeiten - und der das Verhalten manches ehemaligen Machtinhabers zu seinen einstigen »Objekten« auf einen beklemmenden psychologischen Punkt brachte: »Menschen, die man auf dem Gewissen hat, bleiben einem irgendwie unsympathisch; unsympathisch auch dann noch, wenn man ihnen sozusagen schon lange verziehen hat, dass man sie auf dem Gewissen hat.«
Ist, wer Gedichte schreibt, unweigerlich ein Dichter? Nein. Mit dem Dichter hat es auf sich, was Karl Krolow einmal notiert hat: Es gibt, wenn man schreibt - und auch, wenn man liest! - jene hellen Glücksmomente, die Momente des Übermuts sind, »in denen man unbedacht genug ist, um auf die Nachtigall zu warten, die zwischen den Zeilen singt«. Was da geschieht, ist die Verwandlung einer Handvoll Zeit in kompakte, verfügbare Körper: Gedichte. Die aber nicht einfach nur Verse sind, sondern eine Form von - Gelingen. So wie Menschen, gewissermaßen aus heiterem Himmel, Gott begegnen, und wir anderen schütteln ungläubig den Kopf, so kann einer dem Gelingen begegnen. In der Musik geschieht das regelmäßig; man muss nur Bach hören. Seltener im Gedicht. Im Gedicht geschieht es nur dann, wenn dieses von einem Dichter geschrieben wurde und wir durch ihn, zwischen den Zeilen, in eine andere Zeit geraten. In der die Welt nicht mehr von den schweren Gliedern der Realität und ihrer Folgerichtigkeiten bewegt wird. In jener anderen Zeit des Gedichts ist es nie zu spät - für jene kurzen Ewigkeiten, da wir etwas Wahrhaftiges spüren. »Entlang dem staunen/siedelt das gedicht, da/ gehen wir hin//Von niemandem gezwungen sein, im brot/anderes zu loben/ als das brot.«
Gedichte eines wirklichen Dichters lesen, ist glückhafte Kapitulation: Wir unterwerfen uns einem Ton, der uns bis eben gefehlt hat.Und der irgendwann lebensrettend in uns anschlagen kann. »Im gehör/ feingesponnenes silber, das mit der zeit/ schwarz werden wird// Eines tages aber wird die seele/ an schütterer stelle/nicht reißen.« Dieses Gedicht heißt »Nach einem Cembalokonzert«, geschrieben hat es Reiner Kunze.
Er, der heute, am Sonnabend, 70 Jahre alt wird, ist ein Dichter.
Soeben erschienen: »Wo wir zu Hause das Salz haben«. Nachdichtungen. S. Fischer Verlag Frankfurt (Main), 371 S., Leinen. 16.
Das Anfangszitat stammt aus IM-Berichten in »Deckname Lyrik« (Fischer Taschenbuch 1990), das die Stasiakten gegen R. Kunze dokumentiert.
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