Durch die Nacht hindurch hilft nur die Flaschenpost
Am 11. September vor hundert Jahren wurde Theodor W. Adorno geboren
Dr. Kerstin Decker
Lesedauer: 10 Min.
Max Horkheimer, von Beruf Gesellschaftskritiker, wohnhaft in Pacific Palisades gleich neben Thomas Mann (von Beruf größter und letzter bürgerlicher Schriftsteller), übergab Fritz Lang, von Beruf Regisseur, mitten in Amerika eine Unabhängigkeitserklärung, die in ihrer Radikalität die amerikanische weit hinter sich ließ.
»Im Namen der gesamten Hundeheit« und nach strenger Beratung mit dem »Nilpferdkönig Archibald« behandelt das Dokument die Lossagung aller Wesen »von der entarteten Menschheit«. Fritz Lang, auch kurz »badger«, Dachs, gerufen, war aufgefordert, dieser neuen Internationale beizutreten. Sie setzte voraus, was alle Internationalen voraussetzen: dass das Vergangene gründlich verloren ist, und in diesem Falle war es die Menschheit. Die Unabhängigkeitserklärung wurde im Jahre 1946 unterzeichnet.
»Nilpferdkönig Archibald« war Theodor W. Adorno, der prägendste Theoretiker der »Frankfurter Schule«. Am 11. September vor einhundert Jahren wurde er geboren. Das Datum ist gespenstisch. Ein bloßer Zufall gewiss, dieses Aufeinandertreffen eines weltgeschichtlichen Monats und Tages mit dem individualgeschichtlichen. Adorno hätte dieser Zufall dennoch nicht gleichgültig gelassen. Dabei war er unnachsichtig gegenüber jedem Überrest Magie, egal wo er ihn antraf (außer in der Kunst). Zeichengläubig war er nicht. Aber dieser 11. September, illustriert er nicht auf schrecklichste Weise seine eigene Theorie? Eine Konstellation, zum (Denk)Bild geronnen, wie Adorno vielleicht gesagt hätte.
Als Horkheimer und Adorno Fritz Lang ihr Manifest übergaben, hatten sie gerade die »Dialektik der Aufklärung« geschrieben, auch eine Art »Unabhängigkeitserklärung von der entarteten Menschheit«. Darum dachte man an ungewöhnliche Wege der Verbreitung: die Flaschenpost. Horkheimer hatte es schon 1940 aus New York geschrieben: »Angesichts dessen, was jetzt über Europa und vielleicht die ganze Welt hereinbricht, ist ohnehin unsere gegenwärtige Arbeit wesentlich zur Überlieferung durch die Nacht hindurch bestimmt, die kommen wird: eine Art Flaschenpost.« An den Jetzigen jedenfalls sei die Botschaft verloren.
Die »Dialektik der Aufklärung« erschien zum ersten Mal 1947 in kleiner Auflage bei Querido in Amsterdam. Die eigentlichen Empfänger der Botschaft aber wurde die Generation kritischer Studenten, die 1968 im Westen den Aufstand probten. Nun beeinhaltet jedes Empfangen einer Botschaft zugleich deren Missverständnis. Adorno hat es so gesehen. Er gewahrte das totalitäre Moment im studentischen Protest und schreckte davor zurück.
Die »Dialektik der Aufklärung« ist kein Manifest. Hier gibt es nichts zu verwirklichen, sondern lediglich etwas zu denken, bis heute. Es ist schon ein ungeheuerliches Buch. Entstanden unter dem Eindruck des Faschismus, stellte es doch nicht diesen, oder wie die gewöhnlichen Linken, das kapitalistische System unter Verdacht, sondern sein vermeintliches Gegenteil, die Aufklärung. Die Wurzel dieses Übels muss tiefer liegen - im Zivilisationsprozess selbst. Zusätzlich kompliziert wird die Sache, hält man sich vor Augen, was die Autoren ihre petitio principii nennen: »Wir hegen keinen Zweifel (...), daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist.«
Vor zwei Wochen hat der Leipziger Philosophieprofessor Helmut Seidel auf der Forum-Seite (ND vom 23./24. August) am Ende seines Essays »Ist das Projekt Aufklärung am Ende?« eben diese Horkheimer-Adorno-Stelle zitiert und daran das Zugeständnis geknüpft, dass aufklärendes Denken natürlich den kritischen Blick auf die Aufklärung selbst richten muss, gefolgt von der Warnung: »Aber es sollte weder die Aufklärung noch sich selbst so absolut negieren, dass von beiden nichts mehr übrig bleibt.« Lanciert Seidel gar den Verdacht einer Selbstabschaffung des Denkens bei Adorno und Horkheimer? Er wird es besser wissen. Aber eine merkwürdige Dialektik ist es schon, in die der Leser hier unwillkürlich hineingerät. Diese »Dialektik« hat nichts mehr mit dem idealistischen Walzerschritt These-Antithese-Synthese zu tun, sie ist auch keine bloße Bewährungsprobe für Artisten: Nichts lässt sich hier einfach vom Kopf auf die Füße stellen.
In der Dialektik, die Horkheimer und Adorno meinen, ist nichts unwahrscheinlicher als der idealistische Schluss-Schritt zum Höheren, und natürlich ist auch jede Dialektik, die sich materialistisch vorkommt, in Wirklichkeit idealistisch, solange sie an diesem Tanzschritt festhält.
Sein theoretisches Hauptwerk hat Adorno später »Negative Dialektik« genannt, und darum ging es schon in der »Dialektik der Aufklärung« - das Denken habe sich ganz der Bewegung der Wirklichkeit zu überlassen, nichts an sie heranzutragen, nicht mal den Traum, nicht mal die Hoffnung. Dabei band sich alle Hoffnung auf Fortschritt von jeher an das, wovon das Wort »Aufklärung« den Namen hat - an das Hellerwerden der menschlichen (und natürlichen) Dinge. Und was, so die Frage der Autoren, wenn schon dieses Hellerwerden zugleich eine Verdunkelung war, einen unheimlichen Schatten warf, den wir bloß zu spät gewahrten?
Die beiden Hauptsätze der »Dialektik der Aufklärung« lauten: »Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils« und: »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt sich Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann.« Der mythische Bann ist der Vergeltungszusammenhang, denn in den Mythen muss alles Geschehen Buße dafür tun, dass es geschah. Diese Opfer-Logik wollte die Aufklärung außer Kraft setzen, und in der Tat besteht ihr Hauptmerkmal und ihre Grenze darin, opferloses Denken zu sein. So wie die Moderne die Abschaffung des Opfers in Denken und Tat zur Voraussetzung hat.
Und dann sahen wir die Flugzeuge in die beiden eben noch avanciertesten Türme der westlichen (aufgeklärten) Welt fliegen, und Sekunden später waren sie nur noch ein »Zeichen triumphalen Unheils«. Brandmale, grausige Denkbilder. Allein mit dem Wort kann man sich noch immer den Zorn aller »aufrecht Empfindenden« zuziehen. Als ob es dabei etwas zu denken gab! Als ob die Absolutheit des Verbrechens nicht offensichtlich war! Der Zorn traf alle, die nach dem 11. September über die Eigentümlichkeit dieses Bauwerks nachdachten. Symbol westlicher Macht(anmaßung), Wahrzeichen des Kapitalismus? Es war nicht opportun, das auszusprechen; und wer es dennoch tat wie der bislang nicht unbedingt als Kulturkritiker aufgefallene Modemacher Wolfgang Joop (und das auch noch in Amerika), schien plötzlich ein untragbares Risiko für die eigene Firma geworden zu sein. Dabei wollte Joop gar nicht den Kapitalismus abschaffen, er nahm nur das intellektuelle Recht in Anspruch, auch nach dem 11. 9. noch bis drei zählen zu dürfen.
Wer nicht sah, dass das World Trade Center ein Wahrzeichen des Kapitalismus war, hatte seine geistige Abdankung schon hinter sich. Bloß was folgte daraus? Den »Aufrechten« war es wie das Zugeben einer Mitschuld, und man konnte ihre Abwehr sogar verstehen. In der Tat ist der fast schon allgemeingesetzte westliche Sozialarbeiterblick »Wenn einer Böses tut, macht er das bestimmt nicht freiwillig; es kommt darauf an, ihn besser zu verstehen!« manchmal nicht recht unterscheidbar von einem Anfall akuten Schwachsinns - obwohl sein Grundgestus, noch immer, ein wunderbarer Ausweis von Humanität ist. Bloß im Falle des 11. September schmälerte in der Tat nichts das Verbrechen.
War das World Trade Center denn böse, bloß weil es ein Sinnbild des Kapitalismus war? Im Gegenteil, es war vor allem Ausdruck ungeheuren menschlichen Könnens. Ein neuer Turm zu Babel. Nur der Gott der Bibel fand zu hohe Menschen-Türme falsch. Denn natürlich sind es Autonomie-Türme, Gott-Konkurrenztürme, Macht(anmaßungs)-Türme. Das waren schon die gotischen Kirchen. Dass der Fundamental-Christ George Bush davon nichts merkt, hat mit der Konsistenz seines Glaubens zu tun. Adorno hätte sie vielleicht verdinglichte Religiosität genannt.
Muss die westliche Welt aus dem 11. September also lernen, künftig kleinere, weniger Anstoß erregende Türme zu bauen? Mit Blick auf den Standort Manhattan garantiert nicht, obwohl die Jetzt-erst-recht-und-noch-höher-Vorgabe für das neue Bauwerk auch etwas von infantilem Trotz hat. Die Frage, ob die Menschheit sich selbst überleben kann, wird sich irgendwann tatsächlich daran entscheiden, ob sie fähig sein wird, kleinere Türme zu bauen. Und damit sind wir wieder bei der »Dialektik der Aufklärung«, nämlich bei ihrem »Konstruktcharakter«.
Es ist schon auffällig, dass das Wort »Kapitalismus« im Text fast nirgends fällt. Es hätte in die Irre geleitet. In einem Punkt waren die Autoren jedenfalls mit Marx einig: dass der Entwicklung der Produktivkräfte nur schwer etwas entgegenzustellen ist. Ein letzter Beleg für Marx' richtige Annahme war der Untergang der DDR: ihre neofeudale Verfasstheit war eine zu starke Fessel für die Produktivkräfte. Deren Logik haben wir längst unsere Geschicke übergeben, und wer hier in voller Fahrt abspringen will, tut es bislang nur um den Preis der Regression. Auch davon gab die DDR ein Beispiel.
Wenn es also gar nicht um Kapitalismus und Sozialismus (den die Welt noch nicht gesehen hat) geht, dann geht es in der Tat um die prometheische Logik der menschlichen Entwicklung. Also um das, was mit Gesellschaften geschieht, während sie andere Pläne machen, könnte man mit John Lennon sagen. »Auf dem Rücken eines Tigers in Träumen liegend«, das war für Nietzsche die Verfasstheit der Vernunft. Aufklärung bei Adorno und Horkheimer ist keine abgegrenzte geschichtliche Phase, sondern sie meint das fortschreitende Denken selbst, seine Geschichte. Den Ausgang aus dem Mythos bezeichnet die allmähliche Scheidung von Dichtung und Wissenschaft, und damit die Trennung von Bild und Zeichen, die in der Lehre der Priester noch zusammenfielen.
So verändert das Wort seinen Charakter: als Zeichen, unbegrenzt disponibel, fungiert es in der Wissenschaft, dort wird es Kalkulation (Türme bauen!) und muss zum Preis dafür den Anspruch ablegen, der Natur ähnlich zu sein. Das bildhafte, nachahmende Moment bewahrt hingegen die Kunst um den Preis, dass ihr die Erkenntniskraft abgesprochen wird. Das nachahmende, anschmiegende Moment nennt Adorno Mimesis, es wird später (in strenger Vermittlung durch den Stand der ästhetischen Produktivkräfte) zum Hauptwort seiner »Ästhetischen Theorie« werden. Die Scheidung von Bild und Zeichen, gelesen als Prozess der Aufklärung: das Muster einer Heilsgeschichte ist das nicht, vielmehr deutet alles auf ein Motiv des Sündenfalls, einer unheilbaren Zweiheit. Was Geschichte ermöglichte, was zur menschlichen Autonomie führte, ist ein anfänglicher Riss. Es bleibt bei der Ambivalenz im Begriff der Aufklärung: Freiheit in der Gesellschaft, ja jede Form von Zivilität ist unablösbar von ihr, und doch stiftet sie - schon ob ihrer Formalisierung - einen Zwangszusammenhang: die Herrschaft dessen, was Adorno und Horkheimer die instrumentelle Vernunft nennen werden, die szientifische Systemvernunft. Und sie stiftet genau darum den Scheincharakter der Dinge.
Berühmt geworden ist beider Odysseus-Deutung als Urgeschichte der bürgerlichen Subjektivität sowie das Kulturindustrie-Kapitel. Wichtig ist, dass es sich in beiden Fällen nicht um bloße Denunziation handelt. Odysseus, der die Sirenen überlistet, bändigt die Lüste in sich: »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete Charakter des Menschen geschaffen war ...« Aber das heißt gerade nicht, dass Befreiung darin läge, diesen Prozess einfach nur rückgängig zu machen und die Lüste freizulassen, wie es Adornos Studenten 1968 hofften.
Der militante Anteil der 68er war kein zufälliger. Entfremdung ist für Adorno ein romantischer Begriff. Der Mensch wäre gar nicht, wenn er nicht entfremdet wäre. Natürlich ist das Motiv des Sündenfalls in der »Dialektik der Aufklärung« nicht von außen herangetragen, gar theologisch, auch wenn Horkheimer und Adorno, dies zu erkennen, quasi den Ort Gottes selbst einnehmen oder zumindest den des Benjaminschen Engels, in dessen Flügeln sich der Paradiesessturm verfangen hatte. Das Theologische als Metapher.
Ein Ausgangspunkt Adornos und seiner Freunde war das Bemerken einer falschen Abschaffung der Religion. Glaube und Unglaube - Theodor W. Adorno war wie Thomas Mann beides gleichermaßen verdächtig. Marx' Religionskritik überschritt die Grenzen aufklärerischen Denkens im engeren Sinne nur unwesentlich, und der simple Atheismus macht ärmer, denn er beinhaltet den Verlust aller Erfahrungen der Menschheit aus den religiösen Epochen der Geschichte. Dass jedoch ein unmittelbar religiöses Selbstverständnis ganzer Kulturkreise einmal so hart der westlichen Kultur gegenüberstehen würde, nicht als Element der eigenen Vergangenheit, sondern als eines der Gegenwart - es lag noch nicht im Blick Adornos.
Diese Ungleichzeitigkeit der Entwicklung birgt ein zusätzlich zerstörerisches Potenzial, es benimmt in einer globalisierten Welt die Möglichkeit, eigene Erfahrungen mit sich zu machen. Denn wer aus dem religiös-abschottenden Herkunftskokon heraustritt, wird schutzlos Teil einer vorgefertigt westlichen Markt-Welt, die er nicht gemacht hat. Nach Adorno ist das der (jetzt tauschwertbasierte) Verhängniszusammenhang dessen, was ist: Wiederkehr des Zwanges der mythischen Welten in der Spätkultur. - Vorerst bleibt der 11. September, Adornos Geburtstag, der Name für die Verletzlichkeit hochentwickelter Gesellschaften. Und er führte vor aller Augen, dass ihre vorausgesetzte Opferlosigkeit Illusion sein könnte.
Kerstin Decker ist Philosophin und lebt als freie Autorin und Publizistin in Berlin. Jüngste Buchveröffentlichung: »Angelica Domröse: Ich fang mich selber ein« (Co-Autorin).
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