Ungewöhnlicher Besuch stellte sich jüngst bei der japanischen Botschaft in Peking ein. 5000 Seiten weißen Papiers, beschrieben mit den Namen und Adressen von gut 1,2 Millionen chinesischen Bürgern sollten an die japanische Botschaft übergeben werden.
Die Unterzeichner waren einem Aufruf von Internetportalen im Land gefolgt, eine Petition an die japanische Regierung zu richten, in der die unverzügliche Zahlung von Entschädigungen an die jüngsten Opfer japanischer Giftgaswaffen gefordert wird.
Das Datum der Übergabe war nicht zufällig gewählt. Am 18. September vor 72 Jahren waren japanische Truppen in die Mandschurei im Nordosten Chinas eingefallen und hatten ein Jahr danach einen Marionettenstaat gegründet. 14 lange Jahre wütete die japanische Armee im Land und hinterließ neben viel verbrannter Erde und unermesslichem Leid auch chemische Kampfstoffe, die bis heute ihre Opfer fordern. Insgesamt 2000 Tote sind es seither.
Erst am 4. August dieses Jahres hatte sich ein Schrotthändler hoch im Norden Chinas, in Qiqihar, beim Öffnen von zwei Kanistern, die gerade ausgegraben worden waren, schwerste Verätzungen durch das ausgeströmte Gas zugezogen. 42 weitere Menschen wurden teils schwer verletzt und zur Behandlung ins örtliche Krankenhaus eingeliefert.
Die chinesische Regierung hatte daraufhin sofort den japanischen Botschafter in Peking einbestellt und Japan aufgefordert, seiner Verantwortung endlich nachzukommen und die tödliche Hinterlassenschaft schnell und restlos zu beseitigen. Japanische Politiker drückten ihr Bedauern über den Vorfall aus und versprachen, eine »schnelle Lösung in der Angelegenheit«. Doch eine Entschuldigung bei den Opfern und Entschädigungszahlungen, die eine Anerkennung der Kriegshinterlassenschaft und damit einer Aggression gegenüber China impliziert hätte, blieben auch dieses Mal aus.
Japan tut sich weiterhin schwer im Umgang mit seiner jüngeren Vergangenheit in Ostasien und zieht aus diesem Grund immer wieder Wut und Empörung seiner asiatischen Nachbarn auf sich. Seit 1995 bearbeiten chinesische Rechtsanwälte gemeinsam mit japanischen Kollegen Klagen auf Entschädigungsforderungen von chinesischen Giftgasopfern. Zum größten Teil blieben sie bisher jedoch erfolglos. Denn mehr als 2000 Anklagen warten immer noch bei japanischen Gerichten auf ihre Bearbeitung. Obwohl China und Japan 1999 eine Vereinbarung unterzeichneten, die Japan dazu verpflichtet, entsprechend den Regelungen der internationalen Konvention über das Verbot von Chemiewaffen alle auf chinesischem Boden hinterlassenen Kampfstoffe zu beseitigen und auch für die Folgekosten aufzukommen. Doch bisher wurden ledigliche eine Arbeitsgruppe gebildet und Programme ausgearbeitet. Mit der konkreten Arbeit ist immer noch nicht begonnen wurden.
Anfang September meldeten japanische Presseagenturen, dass die japanische Regierung bereit ist, mit 100 Millionen japanischer Yen (etwa 800000 Euro) zur ärztlichen Behandlung der jüngst in Qiqihar verletzten Chinesen beizutragen. Das rief unter allen Bevölkerungskreisen im Land einen Sturm der Empörung hervor. Nicht allein deshalb, weil dieser Betrag nur einen Bruchteil der bereits von den Opfern und ihren Anwälten geforderten Entschädigungen ausmachen würde, sondern, so ein Japan-Spezialist der Akademie für Sozialwissenschaften in China, weil die japanische Regierung ein weiteres Mal nicht bereit ist, sich öffentlich zu entschuldigen und den Betrag als Entschädigung zu deklarieren. Darüber hinaus soll die Summe von den Geldern abgezweigt werden, die ohnehin für die Beräumung der chemischen Waffen gedacht waren.
Angesichts dieser Entwicklung nahmen nun chinesische Aktivisten die Geschicke selbst in die Hand. Sie sammelten Unterschriften und übergaben sie der japanischen Botschaft. Die bei der Polizei in diesem Zusammenhang angemeldete Protestdemonstration in Pekings Diplomatenviertel Chaoyang wurde allerdings nicht genehmigt. Die chinesische Regierung ist darum bemüht, die Beziehungen zum östlichen Nachbarn nicht weiter zu belasten. Aber immer mehr chinesische Bürger verlangen, dass Japan die volle Verantwortung dafür übernimmt, was es China und den Nachbarländern angetan hat. Dabei geht es weniger ums Geld als zunächst um eine Entschuldigung durch die japanische Regierung in aller Form und in aller Öffentlichkeit.
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