Das ist deutsche Kultur!

Heiko Sander kämpft für den deutschen Schlager. Er lässt sich nicht einschüchtern

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 11 Min.
Kämpfe durchtoben unsere Welt: George W. Bush kämpft gegen das Böse. Amnesty kämpft für die Menschenrechte. Die Gewerkschaft kämpft gegen Sozialabbau. Greenpeace kämpft für unsere Umwelt. Heiko Sander hat uns noch gefehlt. Auch er hat eine Mission zu erfüllen: Vor fünf Jahren trat der Cottbuser an, um den deutschen Schlager zu retten.
Heiko Sander empfängt uns in seinem Zimmer. Ein noch jugendlicher, leicht fülliger Held, der uns herzlich die Hände schüttelt, bevor wir uns auf die Stühle quetschen, die seine Mutter extra hereinträgt, damit wir uns irgendwo hinsetzen können. Man könnte nun nicht mehr treten im Zimmer. Es ist kleiner als eine Mönchszelle und gehört zur klitzekleinen Neubauwohnung seiner Eltern. Obwohl Sander 32 ist, zu einer eigenen Behausung hat es bisher nicht gereicht. Nach der Maschinistenlehre im Tagebau Jänschwalde, erklärt er, sei er arbeitslos gewesen, erst vor kurzem habe er eine Sachbearbeiterstelle im öffentlichen Dienst angetreten. So dass sich nun peu-a-peu seine Finanzen konsolidieren und er daran denken könne, in eine eigene Wohnung zu ziehen, vielleicht zusammen mit seiner Freundin...

»Da musste man was unternehmen«

Aber eigentlich haben solche Gedanken in seinem Kopf gar keinen Platz. Und eigentlich ist sein winziges Zimmer auch keine karge Mönchszelle, sondern ein Kosmos, ein Schlagerhimmel. Ein Himmel, an dem all die Sterne glänzen, die Heiko Sanders Welt erhellen: Roger Whittacker, die Flippers, Engelbert, Fernando Express... Wo anderswo Bücherborde hängen, säumen bei ihm Schachtelregale für CDs und Kassetten die Wände. Selbst in den Fächern der Anbauwand stapeln die Scheiben sich bis zum Rand - etwa 8000 Stück, schätzt er. Ein Vermögen, für das er sich längst hätte ein Haus bauen können. Wenn er Lust und Zeit gehabt hätte. Seine Zeit braucht Heiko Sander allerdings für andere Dinge.
Es geschah im Juni 97, er erinnert sich genau, als seine Welt plötzlich Risse bekam. Tagsüber war sie noch in Ordnung gewesen, da war er noch mit Wolfgang Petry, Nico Frank, Silke & Dirk, Gaby Baginsky, Andrea Berg und vielen anderen auf einer Welle gesurft. Die Welle: 98,6, sein Sender »Antenne Brandenburg«. Nach Mitternacht, rumms, das Erdbeben: Da liegt er gemütlich auf seiner Couch, und statt des »ARD-Nachtexpress« wird die »ARD-Popnacht« gesendet. »Pop statt Schlager«, sagt er ernst, als ginge es um einen Unterschied wie zwischen Fastfood und haute cuisine, »das muss man sich mal vorstellen! Da kommt dann plötzlich so ein Gehusche und Gekloppe aus den Boxen, ich kann das nicht schön finden.« Am nächsten Tag, so Heiko Sander, war der deutsche Schlager »raus«. Außer Grönemeyer, Lage und Nena, die ja immer gespielt würden, »nur noch englisches Gedudel«. Er dachte sich: »Das kanns nicht sein. Nicht im Öffentlich-Rechtlichen, das sich ja zu 90 Prozent aus Gebühren finanziert, und zwar aus Ihren und aus meinen. Da musste man was unternehmen.«
Zuerst rief er beim Sender an, um zu erfahren, was denn los sei. In Cottbus habe man ihm gesagt, dafür sei Potsdam zuständig. Bei seinen Telefonaten mit Potsdam sei er ständig weiterverbunden worden, von »Prontius zu Pilatius«, sagt er, schließlich sei es ihm gelungen, zur Chefetage durchzukommen. ORB-Hörfunkdirektorin Steer habe von einer Umfrage gesprochen, deren Ergebnis nun vorliege. Und das Ergebnis sei eindeutig: Die Leute wollten englische Musik! Das habe er nicht geglaubt. Niemand kann Heiko Sander erzählen, dass Leute wie seine Eltern englische Popmusik hören möchten. Er will das ja schließlich auch nicht. Also hat er dem Sender geschrieben. Dieser Brief, der dummerweise wieder bei Frau Steer landete - Sander wusste damals noch nicht, wie Redaktionen arbeiten und musste noch eine Menge lernen -, sollte der erste einer zähflüssigen Korrespondenz werden, die nun eine Aktenmappe füllt: die Geschichte einer, wie er es nennt, demokratischen Einmischung.
Irgendwann in dieser Zeit hat er das Plakat von »Antenne Brandenburg« von der Wand über seiner Couch abgehängt. Denn er war schnell dahintergekommen, was wirklich hinter dem Schlagerklau steckte: »In Wirklichkeit ging es um die Werbung. Und die Werbung richtet sich an 14- bis 49-Jährige.« Tja, wer hätte das gedacht. Sander jedenfalls ging ein Licht auf: »Da ist man wohl der Meinung gewesen, dass der Schlager nicht ins Konzept passt. Aber das ist natürlich Quatsch. Auch die Jugend steht auf Schlager, nicht nur Leute von 50 bis 70.« Das weiß er, weil »wenn Andrea Berg oder Achim Menzel kommen, ist der Platz immer rappelvoll. Auch die Kastelruther Spatzen sind bei uns immer ausverkauft. Und ich sehe dann ja, dass das Publikum jung ist.«

Einfach ein traumhafter Titel

Etwas kann mit der Cottbuser Jugend nicht stimmen. Etwas kann mit Sander nicht stimmen. Waren sie denn nicht einmal in der Pubertät Rebellen? Kein wütender Stinkefinger dem Musikgeschmack der Eltern? Kein Rütteln an der heilen Welt, kein Kampf dem Kommerz, kein rockiger Aufschrei? »Wieso«, fragt Sander, »Schlager sind schön. Die habe ich schon als Kind gehört, das hat mich offensichtlich geprägt.« Ein Griff, schon hat er das Neueste von Fernando Express bei der Hand, dann schmalzt es aus dem CD-Player: Das Mädchen am weißen Strand / Das sah so einsam aus, / er fühlte, ihr Herz war nicht / in dieser Welt zu Haus. Nicht in dieser Welt zu Haus. Vielleicht besteht ja darin schon das ganze Schlager-Erfolgs-Geheimnis: Man möchte doch zu Hause sein! Dabei steht man im wirklichen Leben meistens draußen vor der Tür, dort muss man sich warm anziehen, statt dass einem warm uns Herz wird. Sanders Herz scheint jetzt kurz vor dem Schmelzpunkt, denn sein Blick ist ganz weich geworden. »Einfach ein traumhafter Titel«, schwärmt er, »beim Sachsenradio ist der in der Schlagerparade.« Wenn er ihn hört, kriegt er so ein »Urlaubsfeeling«. Wo er Urlaub macht? Er lächelt. »Meist in Deutschland, auf dem Grundstück.«
Heiko Sander liebt seine Heimat. Und Heimat ist für ihn »Geborgenheit, meine Eltern, meine Freundin, im Radio die richtige Musik«. Wobei er die Grenzen »nicht so eng« zieht. »Was ist zum Beispiel "Herzilein" von den Wildecker Herzbuben?«, fragt er. »Das fällt überall unter Volksmusik. Doch es gibt auch den volkstümlichen Schlager. So wie es den Pop-Schlager und den Techno-Schlager gibt. Alle sind sie melodiös.« Selbstverständlich sängen manche deutschen Schlagersänger auch englisch, wogegen Adamo, Engelbert und Tony Christie deutsch sängen. Auch den einen oder anderen englischen Schlager könne man sich durchaus anhören. »Also, ich mag keine Schubkästen. Aber wir leben hier in Deutschland. Und hier hört man im Radio viel Musik, die uns so fremd ist, dass man sich fragt, ob der Intendant sich der deutschen Sprache schämt. Nehmen Sie den Deutschlandfunk: Der spielt 80 Prozent auf Englisch. In anderen Ländern ist das undenkbar: Die BBC spielt nicht 80 Prozent auf Deutsch! Und Radio France Internationale bringt überwiegend französische Musik.«
Wo Sander Recht hat, hat er Recht. Zumal jene Musik, die wir hip nennen, weil die Sänger ein bisschen lispeln, ja auch nur billige Konfektion ist. Das führt Sander aber nicht ins Feld, es könnte nach hinten losgehen. Denn darin weiß er sich mit »den Menschen« einig: »Der Schlager, das ist deutsche Kultur. Wir müssen aufpassen, dass in Deutschland noch etwas Gutes erhalten bleibt.« »Antenne Brandenburg«, wie gesagt, lag plötzlich ziemlich neben der Spur. »In einer Region«, sagt Sander, »in der 62 Prozent der Bürger älter als 50 sind, war es eine Entscheidung gegen die Menschen. Also hab ich mich schlau gemacht, was man unternehmen kann, und eine Bürgerinitiative gegründet.«

Vorsicht geboten: Wir sind das Volk!

Sander durchlebt jetzt den Kampf noch einmal. Er lächelt, strafft die Schultern, auf seiner Stirn steht »Wir sind das Volk!« geschrieben. 30 bis 50 Personen hat er damals um sich scharen können, »den Hotelier aus dem Spreewald, die Hausfrau aus Cottbus, den Azubi, die Schülerin«. Sie haben Programmbeschwerden verfasst, auf der Straße Unterschriften gesammelt, »das ging paketeweise zum Sender.« Er hat bei Stolpe interveniert. Versucht, Promis einzuspannen. Als zum Beispiel Achim Menzel auf der Geburtstagsfete des ORB in der Spreegalerie auftrat, ist Sander vorher zu ihm gegangen. »Du trittst hier auf«, hat er zu ihm gesagt, »bei einem Sender, der dich nicht spielt!« »Aber«, fährt er begeistert fort, »Achim hat dann prima mitgemacht. Er trat auf die Bühne, begrüßte die Leute: "Hallo! Der Sender hatte kein Geld, Michael Jackson herzuholen, deshalb hat er auf mich zurückgegriffen." Da war natürlich sofort Stimmung.« Er erzählt auch, wie er Karel Gott als Mitstreiter gewinnen wollte. »Er war bei uns in der Stadthalle, ich habe ihn angesprochen. Leider hat er abgewinkt: "Nee, ich mache da nicht mit. Ich habe Angst, wenn ich mich beschwere, dass man mich dann gar nicht mehr spielt." Und diese Angst hatte er zu Recht.«
Klar, auch Sander ist »unter Druck gesetzt« worden. Man habe gedroht, ihn zu verklagen, weil er die Unwahrheit verbreite. Man habe versucht, ihn »ruhig zu kriegen«, indem man ihn einlud zur »Rauschenden Priebshow«, wo die Hörer für den Grand Prix »voteten« und er mit auswerten und moderieren durfte. Doch so kauft man Sander nicht ein! Nicht, wenn er »die Menschen« hinter sich weiß. »Der Sender hatte Hörer verloren. Viele Hörer: Das war der beste Beweis, dass er auf dem falschen Weg war.« Also machte er in der »Lausitzer Rundschau« mobil gegen die »Hottentottenmusik«, »Polylux« besuchte ihn, er war Gast bei »Vera am Mittag«. Und immer wieder bombardierte er die Sendeleitung mit Briefen. Selbst als Chefredakteuer Christoph Singlnstein ihm genervt, nur mit gerade noch aufrechterhaltener Höflichkeit schrieb: »Ich sehe mich nicht in der Lage und bin auch nicht willens, mit Ihnen eine Dauerkorrespondenz zu führen«, ließ Sander sich nicht abschrecken. Man darf nicht empfindlich sein. Man muss dran bleiben, allen Schmähungen, allen Versuchen, den Schlager herabzusetzen, Argumente entgegenstellen. Kam man ihm mit »Volksverblödung«, hielt er seelenruhig dagegen: »Es gibt schon Texte, wo man sagt, da hat der Künstler sich ganz schön Gedanken gemacht.« Sander ist kein Mann, der laut wird. Er bleibt immer melodiös und sieht knuffig aus wie ein Teddy. Doch man darf ihn nicht unterschätzen. Er stellte dem Sender ein Ultimatum: Sollte der es bis Juni 2000 nicht schaffen, die Welt wieder in Ordnung zu bringen, werde er zum Staatsanwalt gehen...

»Sehr puristisch, aber nicht bösartig«

Nun, so weit ist es nicht gekommen. Endlich der Sieg: Sein Heimatsender »Antenne Brandenburg« startete mit einem Relaunch! Auf einmal waren »Schlagerparade« und »Nachtexpress« wieder im Programm, auf einmal hörte er sie wieder, Peter Lorenz, Ulla Norden, Rosenstolz, Bianca Graf. »Man kann immer was erreichen, wenn man für seine Sache kämpft«, fasst er seine Erfahrung zusammen, »man darf nur nicht bei der kleinsten Schwierigkeit den Kopf in den Sand stecken.« RBB-Hörfunkdirektorin Steer freilich meint, das Relaunch Sander anzurechnen, sei »etwas zu viel der Ehre: Wir machen regelmäßig Höreruntersuchungen, da ändert sich ja immer etwas. Wollten die Leute Anfang der 90er mehr englische Musik ästimieren, wünschten sie später wieder mehr deutsche Titel. Doch 2000 haben wir ja eine völlig neue Musikfarbe aufgelegt. Gut, wir spielen wieder mehr deutsche Titel, aber wir haben gleichzeitig auch die andere Musik geändert. Wir bieten jetzt sehr viele Oldies, darunter auch französische, die Musikfarbe ist sehr gut ausgewogen.« Trotzdem, so Hannelore Steer, schätze sie Heiko Sander »wirklich«: »Er ist hartnäckig, von seinem Ding beseelt, sehr puristisch, aber nicht bösartig. Früher hat er gesagt, was ihm nicht gefiel, jetzt, seit sich "Antenne" wieder berappelt, faxt er uns, was ihm an uns gefällt. Ich muss sagen, das ist sehr fair.«
Inzwischen ist der Kämpfer Sander nicht mehr nur eine lokale Größe. Als der NDR, Radio Mecklenburg-Vorpommern, »die Heimatlieder abwürgte«, baten die Nordlichter ihn um Hilfe. »Wir haben richtig Programmbeschwerden gemacht! Es spricht sich rum, wenn ein Produkt wieder gut ist.« Den Medien will Sander treu bleiben. Ihnen auf den Weg helfen, wenn sie mal wieder abirren. »Wer einmal solche Fehler gemacht hat, macht sie wieder«, ist er sicher. Wenn es nach ihm ginge, würde er die Verantwortlichen ablösen. Wenn er selbst verantwortlich wäre, würde er eine Quote einführen. Und zwar nicht 60:40 für nationale Produktionen, wie es einst die DDR hielt, sondern noch rigoroser, so wie in Frankreich: »Da muss durchgegriffen werden!«
Nein, er wollte nicht Maschinist werden. Auch nicht unbedingt Sachbearbeiter. Er mag es, wenn man ihn heute anspricht: »Irgendwo habe ich Sie doch schon gesehen.« Sein Traumberuf war Schauspieler: »Dort kann man ein Stück von sich selbst auch anderen Leuten präsentieren«. Als Kind hat er in der Fernsehserie »Die Spreewaldfamilie« mitgespielt. Im Rampenlicht stehen, fasziniert ihn. Er würde auch gern Politiker: »Wenn hier Entscheidungen getroffen werden«, sagt er mit seiner sanften Stimme, »täte ich gern mal ein Wörtchen mitreden!«
Es könnten sich Leute finden, die Sander eine Chance geben. Gott bewahre ihn davor. Warum rechnen wir immer mit dem Schlimmsten? Frau Sander brät in der Küche Schnitzel.

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