In Düren haben die Gefangenen spezielle Kontakte zur Gesellschaft
Michael Klarmann
Lesedauer: 9 Min.
Nein, sagt Ingi Chatorjé, sie habe sich »keine Gedanken darüber gemacht, was die Jungs angestellt haben.« Hätte sie dies, wäre wohl auch nicht jener flüchtige Hauch von Normalität in die Mehrzweckhalle der Forensischen Klinik im nordrhein-westfälischen Düren eingezogen. Denn die 36-Jährige ist Sängerin der Punkband »Gee Strings«, die gemeinsam mit den Musikern der »Sugarbombs« Ende Oktober im Hochsicherheitstrakt für psychisch kranke Straftäter auftraten. Es war das 7. Konzert in der Reihe »Forensik rockt«, organisiert von Willi Kappen, dem Lehrer der Anstalt. Er sieht darin eine »Therapieergänzung« - besonders dann, wenn Patienten, Musiker und Besucher unvoreingenommen aufeinander zu gehen und ins Gespräch kommen.
Kappen nutzt seit den 1990er Jahren die Mehrzweckhalle des Hochsicherheitstraktes, um Konzerte mit Amateurbands zu organisieren. Er bindet dabei auch einige Patienten aktiv ein. Sie helfen den Bands, verkaufen Getränke und Eintrittskarten zum Preis von einem Euro. Der Pädagoge sagt, dadurch werde es für die Patienten »zur eigenen Veranstaltung, und die soll dann auch gelingen«. Erhard Knauer, Leitender Arzt, sieht bei alldem auch die Kontaktchance für die Patienten zur Gesellschaft. Gäste und Musiker müssen indes penible Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen und haben Verhaltensregeln zu befolgen: Alkohol und Drogen sind verboten, die Privatsphäre der Patienten ist zu respektieren und mit ihnen zu flirrten tabu. Da aber Rockmusik oft nur jüngere Männer anspricht, finden in der Mehrzweckhalle auch zwei bis drei Mal im Jahr andere kulturelle Veranstaltungen statt, etwa Lesungen und Kabarett. Knauer plant zudem, kleinere Theaterabende zu organisieren.
Uwe V. interessiert derweil eher die Rockmusik. »Konzerte sind etwas besonderes und sehr wichtig«, sagt der 40-Jährige. Sie erinnerten ihn daran, wie er früher mit seinem Bruder, einem semiprofessionellen Musiker, unterwegs war. V. hatte schon »Knasterfahrungen«, sagt er, bevor er 1995 wegen Kindesmissbrauch in die Forensik eingeliefert wurde. Im Rahmen der Therapie hat sich der aus dem Ruhrgebiet stammende Mann unterdessen als Bassist der Forensik-Musikgruppe angeschlossen. Sechs Patienten und Musiktherapeut Ralf Hollnack gründeten »The Bäänd« Ende der 1990er Jahre. Die Kapelle tritt bei Festen innerhalb der Forensik auf und covert Songs, etwa von Santana, Doors und Pink Floyd. Laut Hollnack ist das Freizeitprojekt »für die Patienten ein gutes soziales Lernfeld«. Schwächere würden in der Gruppe gefördert. Zudem könnten viele Patienten mittels Rockmusik - dem Soundtrack ihrer Sozialisation - auf ihr Leben vor den Straftaten zu sprechen kommen. Das sei wichtig für die Therapie.
Ziel des Forensik-Aufenthalts ist es, die Patienten wieder in die Gesellschaft zu integrieren - manchmal aussichtslos, immer mühsam, am Ende lohnend. Rückfälle seiner Ex-Patienten, sagt Erhard Knauer, gibt es weitaus weniger als bei Entlassungen aus dem normalen Strafvollzug. Anders als bei normalen Haftanstalten ist die zu den Rheinischen Kliniken des Landschaftsverbandes Rheinland gehörende Forensik in Düren jedoch mit zwei Gräben, meterhohen Außenmauern und Zäunen gesichert. Sie gilt als modernste Forensik Deutschlands und wurde Mitte der 1980er Jahre nach niederländischem Vorbild für rund 45 Millionen Mark erbaut. 120 männliche Straftäter leben auf dem ähnlich einem Feriendorf angelegten Areal. Glasfassaden, helle Farben und kaum Gitter sorgen innerhalb des weitläufigen Geländes mit Cafeteria, Schulungsräumen und Grünanlage für eine ruhige Atmosphäre. Viele Patienten stehen unter Beruhigungsmitteln, können sich hier aber frei bewegen und bewohnen eigene Apartments in betreuten Wohngruppen. Oft gehören Fernseher, CD-Player oder Computerspiele zu ihrem Privatbesitz. Im Vergleich zu anderen Kliniken sind die Inhaftierten nur gering aggressiv. Zum Zeitpunkt ihrer Straftaten waren sie unzurechnungsfähig, entweder weil sie unter Drogen standen oder unter seelischen Störungen wie Psychosen litten.
Es ist gegen 17 Uhr, als die »Sugarbombs« die mitten in der Mehrzweckhalle aufgestellte Bühne betreten. Die Band kommt aus Aachen, spielt Punkrock und kann bislang auf eine CD-Veröffentlichung zurückblicken. Während sie spielt, bleibt die Fläche vor der Bühne leer. Die rund 40 Patienten wahren Distanz und sitzen eher still auf den Rängen gegenüber der Bühne. Die Musik gefällt nicht jedem. Einige Pfleger sind gegenwärtig, derweil sitzen auf den Rängen auch Freunde und Freundinnen der Musiker. Kontakte mit den Inhaftierten kommen unterdessen kaum zustande. Jedoch wippen mehr und mehr auch die älteren der Patienten mit und applaudieren zwischen den Songs. Als indes kurz vor Ende des Konzerts einmal eine längere Pause entsteht, herrscht absolute Stille. Und lebhafter wird es erst wieder, als der verspätet eintreffende Dominik Schetting, Bassist der »Gee Strings«, die Halle betritt. Teile des Publikums jubeln ihm zu wie einem Star, denn Schetting hat mit zwei anderen Bands hier schon Auftritte absolviert. Außerdem besucht er regelmäßig seinen Freund, der den Spitznamen Earny trägt.
Earny gehörte einst auch zu den Autodidakten von »The Bäänd«. Da er aber »härtere und eigene Songs machen wollte«, habe er wieder aufgehört, Musik zu spielen, sagt er. Eingewiesen in die Forensik wurde er 1993 wegen »Totschlag auf Trip«, so der 42-Jährige über den »Scheiß«, den er seinerzeit »gebaut hat«. Der aus Bonn stammende Punkrocker wünscht sich heute ein »einigermaßen normales Leben draußen« und einen Job als Schlosser oder Lackierer. Um derlei Wünsche in die Realität umsetzen zu können, ermöglicht man therapiefähigen Patienten Kontakte zur übrigen Gesellschaft. Sie gelten dann als Freigänger, und bis Ende 2000 gehörte Earny auch zu diesen. Dann aber habe er »wieder Scheiß gebaut« und durfte die Anstalt nicht mehr verlassen. Unterdessen, sagt der bullige Kerl, habe er wieder »Fortschritte« gemacht. Seit Februar diesen Jahres gehöre er abermals als Freigänger der »Außenkolonne« an. Diese besteht aus Forensik-Patienten und erledigt auf dem benachbarten Klinikgelände des psychiatrischen Landeskrankenhauses Möbeltransporte, Garten- und Renovierungsarbeiten. Zudem, sagt Earny, dürfe er in Begleitung von Pflegern und anderer Patienten an kurzen Ausflügen teilnehmen, etwa zum Einkaufen und Wandern. Andere Häftlinge dürfen derweil nur einmal im Jahr die Anstalt begleitet verlassen, meist für familiäre Besuche, etwa an Weihnachten.
Nicht immer sind es persönliche Fehltritte, die zu drastischen Einschränkungen im Leben der Patienten auch innerhalb der Anlage führen. Im April 1998 etwa reichte ein Tag aus, um die Sicherheitsmaßnahmen für alle Forensik-Insassen sofort massiv zu verschärfen. Grund dafür war die Flucht des Gewaltverbrechers Bernd Büch, der nach einem Zahnarztbesuch auf dem angrenzenden Klinikgelände geflohen war. Büch hatte Helfer aus dem kriminellen Milieu, die die begleitenden Pfleger mit Waffengewalt bedrohten, während der gefesselte Gewalttäter in den Fluchtwagen sprang. Zwei Tage später ermordete Büch in Sennewitz bei Halle/Saale einen 46-jährigen Mann und dessen 71-jährige Mutter. Nach der Tat verging er sich zudem mehrfach an der 42 Jahre alten Ehefrau des Getöteten und deren 16-jähriger Tochter. Büch konnte später festgenommen werden. Mediziner sagen heute, er sei hochgradig kriminell, aber nicht psychisch krank gewesen. Also kein Fall für die Forensik, sondern für den üblichen Strafregelvollzug.
Es ist kurz nach 18 Uhr, draußen ist es längst dunkel geworden, und die »Gee Strings« spielen ihren ersten Song. Die Band hat drei Alben veröffentlicht und ist kürzlich von einer selbst organisierten Brasilien-Tour heimgekehrt. Anders als der eher schnelle, ungestüme Punk der »Sugarbombs« spielen die Musiker aus Aachen und Köln klassischen Punkrock. Er erinnert an die Musik der britischen Punkikone Sex Pistols - also fast purer, indes aggressiver gespielter Rock'n'Roll. Vielen Patienten gefällt das deutlich besser, denn die Musik kommt ihren eigenen Idolen nahe. Deren Bandinsignien tragen manche auch auf ihren T-Shirts: Motörhead, Iron Maiden, AC/DC, allesamt Stars des Hardrock. Dennoch steht nur Earny direkt vor der Bühne und singt sogar manchmal kurz mit, wenn Sängerin Ingi Chatorjé ihm das Mikrophon hinhält. Zudem lockert die 36-Jährige die Stimmung mit frechen Sprüchen auf. Im Publikum wird nun sogar im Takt mitgeklatscht.
Die mit knallenger Jeans, schweren Armeestiefeln und T-Shirt bekleidete Chatorjé geht aber - unbewusst - noch einen Schritt weiter. Sie dreht sich manchmal auf der Bühne zum Publikum um, reckt diesem lasziv den Po entgegen und wackelt ein wenig unbeholfen mit diesem, ähnlich einem Gogo-Girl. Derlei Showeinlagen macht sie immer bei Auftritten, es sind aus den Anfangstagen des Punkrock stammende, überzeichnende Gesten. So soll das Vorurteil ins Lächerliche gezogen werden, Sängerinnen könnten im von Männern dominierten Rock'n'Roll nur als Blickfang und Publikumsmagnet dienen. Indes wissen die Patienten nicht um derlei Ausdrucksformen, und bei einigen sorgt die Show wohl auch für andere Gedanken. Ihre - wer weiß welche - Phantasien müssen sie indes mit in ihre Appartements nehmen. Kurz nach 19 Uhr ist nämlich die Zeit für den »Umschluss« gekommen. Das Konzert ist zu Ende.
Als man ihnen das Angebot unterbreitet habe, in der Forensik aufzutreten, beteuern alle Musiker, sei für sie schnell klar gewesen, es wahrzunehmen. Alexander Plaum, Sänger der »Sugarbombs«, sagt, er sei im Vorfeld des Konzertes aber »sehr gespannt gewesen, was einen erwartet«. Zuerst hätten er und seine Bandkollegen sich vorgestellt, im Publikum würden lauter Wachmänner neben den Patienten stehen. Oder diese wären an Handschellen gefesselt zum Konzert vorgeführt worden. Bilder aus Kinofilmen wie »Das Schweigen der Lämmer«, wo der von Anthony Hopkins gespielte Kannibale Hannibal Lecter seine Zelle nur in Zwangsjacke und mit Mundschutz verlassen darf, seien ihnen durch den Kopf gegangen. Zwar seien die Patienten etwas »verschroben« gewesen, resümiert der 25-Jährige nun, ansonsten aber »nett«. Er könne »sich gar nicht vorstellen, dass die krasse Sachen - etwa Kindesmissbrauch - verbrochen haben«. Alles sei sehr »locker« gewesen.
Das findet Ingi Chatorjé auch. Sie sagt, sie sei der Meinung, die Inhaftierten hätten »ein Recht darauf, etwas von außen mitzubekommen«. Ihre eigene Show indes wertet sie selbst als nicht zu provokant. »Die sehen doch hier auch den TV-Sender Viva, da laufen fast schon Softpornos als Musikvideos, mit Sängerinnen und Tänzerinnen«, sagt die zierlich wirkende Frau. Sie gibt aber ebenso zu, vielleicht insgesamt etwas leichtsinnig gewesen zu sein. Denn wie andere Besucherinnen durfte auch sie wegen der Sexualstraftäter im Publikum nicht ohne Begleitung durch Anstaltspersonal die Toiletten aufsuchen. Trotzdem habe sie vorher nicht darüber nachgedacht, was die Patienten »angestellt haben«. Arbeitskolleginnen hätten aber entsetzt regiert, als sie ihnen im Vorfeld des Konzertes davon erzählt habe. Besonders die Mütter, glaubt die 36-Jährige, hätten wohl aus verständlichen Gründen zuerst an ihre eigenen Kinder und die sich häufenden Fälle von Missbrauch und Mord gedacht.
Thomas Hax von den Rheinischen Kliniken nennt die Forensik »einen Zwitter aus Justiz und Krankenhaus«. Er warnt, dass Finanzmittel zur Unterbringung der »vermindert schuldfähigen Straftäter« derzeit stark gekürzt würden. Gleichzeitig kämen aber »immer mehr schwere Fälle« in die Forensiken Nordrhein-Westfalens. Hax' wohl bekanntester Häftling ist dafür beispielhaft: Daniel Ruda. Er und seine Frau Manuela machten im Jahr 2001 als »Satanistenpaar« Schlagzeilen, nachdem sie in Bochum einen Bekannten mit Messerstichen und Hammerschlägen getötet hatten. Ruda lebt heute in dem vom Personal »Krise« genannten Anlagenkomplex. Der zusätzlich gesicherte Bereich innerhalb des Hochsicherheitstraktes verfügt über 24 Zellen für extrem gefährliche Patienten, die weder tauglich für Therapie noch Wohngruppenunterkunft sind. Hax sagt, jene Inhaftierten dürften auch keine Kulturveranstaltungen besuchen. Sie müssten sogar oft zu ihrem eigenen Schutz, dem des Personals und der Patienten, »fixiert« werden.
Zumindest das erinnert dann doch etwas an Hannibal Lecter.
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